Kreuzberger Chronik
Dez. 2011/Jan. 2012 - Ausgabe 133

Die Geschäfte

Die kleine Welt des Herrn Tüx


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von Hans W. Korfmann

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Es gibt Bücher, Filme und täuschend echte Parallelwelten auf Computern. Doch nichts ist so schön wie KinderträumeEs ist ziemlich voll am ersten Adventswochenende in der Marheinekehalle. Touristen aus dem Wedding, aus London oder Bielefeld ziehen an den Marktständen vorüber. Sie kaufen Wildschwein aus der Uckermark, Fisch aus dem Atlantik, griechisches Olivenöl, französische Salamis, italienische Pasta, spanischen Wein… .In der Multikultihalle gibt es Essbares aus aller Welt, da steht der Kreuzberger Bürger gerne an.

Ganz hinten aber, in der letzten Ecke der Halle, da ist noch eine andere Welt. Eine Welt ohne deutschen Schweinebraten und argentinische Rindersteaks. Da leben alle die Tiere noch, friedlich zusammen-wie im Paradies: Die Löwen neben den Schweinen, die Esel neben den Wölfen, Vögel, Fische, Echsen, Saurier, Schlangen... . Nur die Menschenschlangen fehlen vor der kleinen Spielzeugwelt des Herrn Tüx. Da stehen nur zwei Mädchen und träumen von Pferden: »Später, wenn wir mal den richtigen Reiterhof haben, dann holen wir uns auch so einen Pinto.«

»So einen hab ich zuhause, der steht immer im Stall, der will nicht raus.« – »Den wollte ich auch mal. Aber dann hab ich den Braunen genommen, der auf den Hinterläufen steht. Und dann ist mir noch am selben Tag ein Bein abgebrochen. Aber der Typ hier ist voll cool, der hat den sofort umgetauscht und mir ein anderes gegeben. Voll cool.«

Die Klassiker Foto: Dieter Peters
Im großen Pferch mit den Pferden, die den Kopf über den Weidezaun strecken, als warteten sie darauf, von den Kindern gefüttert zu werden, wimmelt es nur so von Pferden. Auch nebenan, im Hundegatter, sind alle erdenklichen Sorten vertreten, vom Bernhardiner bis zum Zwergpinscher, die ganze kläffende Berliner Hundegesellschaft. Natürlich dürfen auch Tiger, Elefanten, Wale, Giraffen und Bären im Kinderparadies nicht fehlen, ebenso wenig wie die rosaroten Schweine und die schwarz-weißen Kühe, von denen zwei Stände weiter nur noch Filets und Würste übrig geblieben sind.

Der Klassiker Foto: Dieter Peters
»Vielleicht nehm ich doch lieber ein paar Ferkel. Die sind echt süß!« sagt das eine Mädchen zum anderen. Da schiebt eine Mutter ihren Kinderwagen vor die beiden: »Haben Sie Nitendo?« -»Tut mir leid, Computerspiele führen wir nicht. Wir haben nicht einmal eine elektronische Kasse. Wir müssen alles mit dem Kopf rechnen.«

Da nähern sich zwei Jungen mit Schulmappen, werfen einen nachlässigen Blick auf die Mädchen und wenden sich den Schwertern, Äxten und Pfeil und Bogen zu. Der Bogen ist aus echter Esche, sie bekommen ihn kaum gespannt. »Nix für kleine Mädchen!«, sagt der eine, aber die Mädchen tun, als hätten sie nichts gehört.

Da verlieren die beiden Jungberliner das Interesse an den Waffen und gehen zu den Spielzeugautos, die schon ein Stück näher bei den Mädchen stehen. Sie versuchen zu fachsimpeln, aber sie kennen nur den gelben »Berliner Doppeldecker«, den der Herr Tüx für die Touristen ins Sortiment genommen hat. Auch den Trabbi haben sie irgendwo schon mal gesehen, »aber mit Blaulicht? Ein Polizeitrabbi, das gibts doch gar nicht!«

All die anderen komischen Modelle in den Regalen kennen sie auch nicht mehr. Es scheint, als würde die Zeit dort hinten in der Markthalle etwas langsamer vergehen, dann da gibt es sie alle noch: Den Messerschmitt Kabinenroller, das Gogomobil und die kleine Isetta, hellblau lackiert und noch so neu und glänzend wie damals in den Fünfzigern. Auch den silbernen 300 SL mit seinen Flügeltüren, der Traum jedes männlichen Nachkriegsdeutschen, fehlt nicht. Ebenso wenig wie der mit Blümchen bemalte VW-Käfer und der alte VW-Bus, mit dem der deutsche Nachwuchs der 68er einst nach Indien, Nepal und Marokko reiste. Vielleicht wäre auch der Herr Tüx gern auf Reisen gegangen. »Love and Peace« steht auf dem Bus, und der Herr Tüx trägt noch immer einen langen Pferdschwanz.

Aber der freundliche Mann in der Spielwarenabteilung der Marheinekehalle hatte 1968 noch ziemlich kurze Haare und war Sparkassenbetriebswirt. Erst allmählich begannen seine Haare zu wachsen. So lange, bis man ihn strafversetzte, weil er ja schließlich »Kundengespräche« zu führen habe, und Langhaarige konnten keine Kundengespräche führen. Dass die Kunden ihn nie sahen, da Tüx nur mit ihnen telefonierte, interessierte damals niemanden. Also wanderte der Betriebswirt von der Auslandsabteilung in die Bilanzabteilung, aber das langweilte den Herrn Tüx derart, dass er sich von den Geldgeschäften abwandte und den Spielzeuggeschäften zuwandte. Besonders das Holzspielzeug hatte es ihm angetan, und so zog er fortan mit seinen buntlackierten Kranlastern und Feuerwehrautos aus Holz über Weihnachtsmärkte und Straßenfeste in Berlin.

Acht Jahre später suchte der Handelsreisende Schutz unter dem Dach der Markthalle. Und obwohl sich die kleine, 24 Quadratmeter umfassende Welt des Herrn Tüx in der hintersten Ecke der Halle versteckt, hat sich zumindest unter den Kindern die Kunde von den Pferden, Tigern und Löwen längst herumgesprochen. Es kann nicht mehr lange dauern, bis auch die Erwachsenen diese seltene Sammlung alter Spielzeugklassiker entdecken. Diese alte Spielwelt des Herrn Tüx mit ihren Springseilen, Murmeln, Kreiseln, Schaufeln, Kasperlepuppen, Tischtenniskellen, Flummies, Stricklieseln… •

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