Dez. 2011/Jan. 2012 - Ausgabe 133
Mein liebster Feind
Sechster Brief von Katja Neumann |
Schön, dass Sie mir auch einmal recht geben, Herr Frings: Geschwindigkeit und Rücksichtslosigkeit der Fahrradfahrer nehmen ja auch tatsächlich auf alarmierende Weise zu. Die Zeiten, als das Rad noch eine Alternative zum Auto darstellte, als der Fahrradfahrer die Langsamkeit kultivierte, den Ölmultis Paroli bot und dem Geschwindigkeitswahn dieser Gesellschaft rostige Zweiräder mit oder ohne Hilfsmotor entgegenstellte, sind vorüber. Radfahrer heute sind nicht besser als Autofahrer damals, und ihre Räder kosten heute mehr als damals ein 2CV. Ich gehöre ja, wie Sie kürzlich bemerkten, zu jenen, die damals haschischrauchend am Strand von Goa herumvögelten und das Studium an den Nagel hängten, um in Kneipen Bier zu zapfen und Klampfe zu zupfen. Mit dem Resultat, dass ich heute von Hartz IV lebe. Aber ich beklage mich nicht. Ich rege mich auch nicht auf, wenn jemand mit dem Fahrrad auf dem Gehweg fährt. Ich habe Verständnis dafür, wenn Radfahrern die Straße zu gefährlich ist. Denn auf den Straßen tobt ein Kampf. Ein Kampf zwischen Fußgängern, Radfahrern und Autofahrern. Es gab Zeiten, Herr Frings, da fuhren übrigens auch Sie friedlich mit einem rostigen Fahrrad, dem nicht nur das Licht, sondern auch die Handbremse fehlte, durch die Gegend. Ich erinnere mich, wie Sie mir einmal radelnd entgegenkamen, mit langer Mähne, ein Buch in der Hand und eine Zigarette im Mundwinkel. Und ich, die Fußgängerin, habe Ihnen freudig gewunken. Es gab nämlich Zeiten, als Fußgänger und Fahrradfahrer auf den Straßen Berlins in friedlicher Koexistenz lebten. Als das lässige Amsterdam als Vorbild diente, und als die Radfahrer nicht schneller fuhren als die Fußgänger liefen. Worüber Sie sich aufregen, Herr Frings, das sind nicht eigentlich die Radfahrer. Es sind als Radfahrer getarnte Autofahrer! Mitglieder einer Gesellschaft, deren Hightech-Räder Statussymbole geworden sind wie einst der Mercedes. Mitbürger, die sich alle zwei Jahre ein neues Rad kaufen, um es von der Steuer abzusetzen, und die ihr Rad niemals draußen parken würden. Mitbürger, die an ihrem BMW-Kombi einen Gepäckträger für Skier, Kanus und natürlich Montainbikes haben und neben zwei Automobilen vier Räder in der Garage. Sie ärgern sich nicht über die Radfahrer, sondern über die zunehmende Rücksichtslosigkeit in der Stadt. Aber wir leben nun mal in der Endphase des Kapitalismus, mein lieber Herr Frings. Und da gilt nur ein Recht, nämlich das Recht des Stärkeren. Zu denen gehört die Autolobby. Aber Sie stören sich an den Radfahrern statt an den Autofahrern! Denn Sie, lieber Herr Frings, haben ja in Ihrer Zwitterrolle als Motorrollerfahrer mit Dach und Sicherheitsgurt und abgeschlossenem Studium gar keine schlechten Chancen, zu überleben. Wenn es dann mal kracht. Im Gegensatz zu Fahrradfahrern oder Fußgängern.• Ihre Katja Neumann |