Kreuzberger Chronik
April 2011 - Ausgabe 126

Herr D.

Der Herr D. und der Herr zu G.


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von Hans W. Korfmann

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Was man am Mehringdamm alles erleben kann

Der Herr D. hatte sich bei den Junkies einen Fahrschein gekauft, weil er, als echter Kreuzberger, mehr Sympathien für Junkies als für die BVG hatte. Da fiel ihm ein, dass er den Brief an die Richterin noch einwerfen musste. Also kehrte er noch einmal ans Tageslicht zurück.

Oben, auf dem Damm, vor dem Stand des vegetarischen Dönerverkäufers, war die Schlange aus ernährungsbewussten Studenten und alternativen Künastwählern zehn Meter lang. Gegenüber, vor der qualmenden Wurstbraterei, hatten sich die Fleisch essenden Fünfzigjährigen versammelt, unter ihnen der regierende Bürgermeister nebst zwei breitschultrigen Herren mit ernsten Gesichtern. Der Bürgermeister wischte mittels Papierserviette Ketchup aus den Mundwinkeln und machte einen so zufriedenen Eindruck wie seine Currywurst.

Auf dem Weg zum Briefkasten kam ihm Wowereits Kollegin von den Grünen entgegen. Frau Künast hatte keine Bodyguards an der Seite, sondern eine Freundin. Wahrscheinlich war sie wegen ihres Saxophons am Mehringdamm, oder sie wollte in ihre neue Wohnung in der Bergmannstraße, oder sie wollte nur einen vegetarischen Döner.

Dann, ausgerechnet vor dem Schaufenster von Grieneisen, kam ihm dieser eilige Mann entgegen, den er auch schon irgendwo gesehen hatte. Der Mann sah zu Boden, aber der Herr D. kannte dieses schlanke Gesicht, die zurückgegelten Haare, die Intellektuellenbrille. Und weil er nicht wusste, ob es sich um einen alten Freund oder vielleicht doch wieder nur um einen Politiker handelte, nickte er ihm prophylaktisch zu. Der Bekannte, der just in diesem Moment kurz den Blick vom Straßenpflaster hob, nickte erfreut zurück.

Es war der Doktor, über den sie vor Wochen im Krug den ganzen Abend debattiert hatten. Der Herr D. hatte sich geärgert, dass die einstigen Kampfgenossen, die jahrelang hinter den Studienbänken gesessen hatten, nur um Bafög zu kassieren, und die sich die Diplomarbeiten zureichten wie Zigaretten, nun den moralischen Zeigefinger hoben und sich in eine Debatte einschalteten, bei der es, wie in jeder dieser blödsinnigen Castingshows, nur um die eine Frage ging: Kann er bleiben, oder muss er gehen? Und der Herr D., der sich geschworen hatte, kein Wort zu Herrn zu G. zu sagen, brach am Ende seinen Schwur. Und debattierte mit.

Jetzt hatte der Herr zu G. Hut und Doktorarbeit genommen und war gegangen. Zu Grieneisen, oder zumindest knapp an Grieneisen vorbei. Da hatte er den Herrn D. getroffen, und weil der Herr D. so nett gegrüßt hatte, hatte er freudig zurückgegrüßt. In dem Bewusstsein, sogar in Kreuzberg noch Freunde zu haben.•


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