September 2010 - Ausgabe 120
Geschichten & Geschichte
Das kurze Leben des Sechsers von Werner von Westhafen |
Er war ein Hauch von Freiheit: Der Sechser zwischen dem Belle-Alliance-Platz und dem Hausvogteiplatz Die Siedlung an der Spree zählte gerade 17.000 Einwohner, als das erste Nahverkehrsunternehmen Berlins mit 12 Sänften und 24 Trägern seinen Dienst aufnahm. 50 Jahre später, das 18. Jahrhundert war angebrochen, wurden 14 vierrädrige Zweispanner zugelassen, um jene Bürger über das unebene Straßenpflaster zu befördern, die über keine eigene Kutsche verfügten. Dann vergingen noch einmal fast einhundert Jahre, ehe der Pferdehändler Mortier die Genehmigung erhielt, an einigen Plätzen in der Stadt seine Droschken zu parken. Doch zur Jahrhundertwende versorgte die »Große Berliner Pferdeeisenbahn«, die ihre Wagen über schonende Eisenschienen anstatt über das holprige Pflaster ziehen ließ, bereits über 45 Linien. 1881 fuhr die erste elektrische Straßenbahn der Welt durch Berlin, 1898 wurde die Pferdeeisenbahn zur »Berliner Straßenbahn«, und 1902 waren die Pferde endgültig von den Schienen verschwunden. Die »Elektrische« machte den Pferdebesitzern das Leben schwer. Sie war nicht nur schneller, sie bot auch 50 Personen Platz und war günstig. Doch der Sechser war noch günstiger: Um die Betriebskosten der Pferdeomnibusse zu senken, verfielen die Reformer des 19. Jahrhunderts auf die bis heute moderne Idee, am Personal zu sparen, schufen den Schaffner ab und stellten einen »Zahlapparat nach englischem Muster« auf. Der Kutscher erhielt die Aufgabe, mittels eines Spiegels die Zahlungsmoral im Auge zu behalten, Kontrolleure und fliegende Boten sprangen auf die Plattformen, wechselten Scheine in Kleingeld und kontrollierten die Fahrgäste. 1897 nahm der »Sechser« seinen Betrieb auf, und die hellgelben Einspänner der Omnibusgesellschaft mit dem treffenden Namen »Reform« waren vom ersten Augenblick an der Stolz der Bewohner vor dem Halleschen Tor. Für unschlagbare 5 Pfennige fuhr der von Pferden gezogene Wagen mit vier Steh- und 8 Sitzplätzen im 5-Minutentakt die Lindenstraße und die Jerusalemer Straße entlang bis zum Hausvogteiplatz und benötigte für die viel befahrene Strecke nicht einmal 13 Minuten. Der »Sechser« war die erste Billiglinie Berlins, weshalb die Fahrgäste auch gerne bereit waren, die eine oder andere Aufgabe an Bord zu übernehmen. Wer als letzter zustieg, musste an einem Riemen ziehen, um dem Mann auf dem Bock das Zeichen zur Weiterfahrt zu geben, und wer dagegen aussteigen wollte, zog zwei Mal an der Leine, um dem Kutscher das Zeichen zu geben. Auch als Kontrolleure sollten sich die Fahrgäste betätigen und besonders Vergessliche an ihre Zahlungspflicht erinnern. Doch die Zahlungsmoral der Kreuzberger Ahnen war nicht eben mustergültig, schon bald mussten die Schaffner wieder eingestellt werden. Dennoch brachten die Omnibusbetreiber noch zwei weitere Fünfpfennig-Linien an den Start und fuhren vom Blücherplatz zum Hermannplatz und in die Mansteinstraße, und eine Zeitung berichtete, die Omnibusgesellschaft plane gar eine direkte Linie zwischen Charlottenburg und Berlin. Foto: Postkarte
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