Kreuzberger Chronik
November 2010 - Ausgabe 122

Geschichten & Geschichte

Karl Heinz Grage


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von Hans W. Korfmann

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Karl-Heinz Grage gehörte zur Kreuzberger Bohème der Siebzigerjahre. Vor 20 Jahren starb er. Eine späte Ehrung

Natürlich hatte diese kleine, verschworene Gemeinschaft aus Kreuzberger Künstlern und Lebenskünstlern ihre Szenetreffpunkte. Die meisten waren Kneipen, und wann immer sich jemand zu Wort meldete, um über die Kreuzberger Bohème zu berichten, fielen die Namen berühmt-berüchtigter Etablissements wie Weltlaterne, zinke und Ruine. Auch als die Neuenburger Nachrichten anlässlich des 70. Geburtstages von Karl-Heinz Grage dem zu früh verstorbenen Künstler eine ganze Ausgabe widmeten, wurden die Namen von Kneipen herbeizitiert, kaum einer, der nicht die Dicke Wirtin, die Nulpe oder den Leierkasten erwähnte.

Nicht nur die Kneipennamen, auch die vielen Beinamen der Protagonisten machen deutlich, dass die Kreuzberger Künstlerszene in ihren aufregenden Anfängen nichts mit gefegten Galerien, teuren Museen und Sektempfängen auf Vernissagen zu tun hatte. Ihre Namen waren keine von Designern entworfene Künstlernamen, keine wohlklingenden und profitablen Pseudonyme, es waren Namen von der Straße, Namen, die im Freundes- und in einem Dunstkreis aus Alkohol, Zigarettenrauch und Haschischwolken entstanden. Die Zeitzeugen, die sich an Karl-Heinz Grage erinnern, nennen ihn »Ikonen Kalle« oder »Weinschlauch«, und sie reihen Anekdoten aus dem Leben »Kalles« aneinander.

Einer, der viel von »Kalle« zu erzählen weiß, ist Ulrich Bormann, der Herausgeber der »Wanderungen durch Rußland« aus dem Jahre 1986 und der »Bilder zum Alten Testament«, einer Serie von 50 Linolschnitten. Bormann ist ein verdienter Mäzen der Künstlerclique, er hat sich am Druck von Grafiken, Büchern und Katalogen beteiligt, und er lud die Künstler, wenn »nicht einmal in ihren Abfalleimern noch etwas Essbares zu finden war«, zu sich nach Hause ein. Mehr als einmal »saßen die da und aßen und man hörte eine geschlagene Stunde lang kein Wort mehr« von diesen ewigen Quasseltüten, nur noch ihr Kauen, »so einen Hunger hatten die.«

Das Leben der Künstler in den Siebzigern war ein Leben am Gesellschaftsrand und im Widerstand. Bormann erinnert sich, wie eines Tages »im tiefsten Kreuzberg« Leute auftauchten und in den Kneipen nach Ausweispapieren fragten. Sie waren ausnahmsweise nicht von der Polizei, sondern Fluchthelfer auf der Suche nach geeigneten Pässen für Regimekritiker, die jenseits der Mauer auf die Freiheit warteten, und die den langhaarigen Künstlern aus Kreuzberg oft nicht unähnlich waren. Zudem waren die Gäste der Künstlerlokale hilfsbereit und verliehen ihre Ausweise gerne, um anderen zur Freiheit zu verhelfen. Der Mann jedoch, der mit
dem Ausweis von Karl-Heinz Grage die Flucht in den Westen wagte, muss verhaftet worden sein. Eines Tages nämlich wurde auch Karl-Heinz auf der Interzonenautobahn von der Volkspolizei gestoppt, und selbst die französische Gräfin, die neben ihm im Auto saß, konnte die Verhaftung nicht mehr verhindern. Zwei Jahre wanderte der Fluchthelfer Karl-Heinz Grage durch verschiedene Haftanstalten der DDR, bis er eines Tages unter Herbert Wehner freigekauft wurde.

Das Leben in Kreuzberg war kein Zuckerschlecken, aber das war es für Karl-Heinz Grage ohnehin nie. »Die Eltern waren versoffene Arbeiter«, schrieb Rosa von Praunheim, der mit ihm auf der HDK studierte, in seinen »sentimentalen Memoiren«. Karl-Heinz Grage, 12 Jahre alt, flüchtete vor diesem Elternhaus zunächst in die nahe gelegene Hamburger Kunsthalle, wo die Museumswärter dem Jungen, der täglich vor der Tür stand und um Einlass bat, Butterbrote zusteckten. Mit 16 trampte er durch Europa und Nordafrika, verdiente erstes Geld mit dem Zeichnen von Postkarten, und stellte 1960 in Soest seine Bilder erstmals einem größeren Publikum vor. 1962 bewarb er sich mit Kugelschreiberzeichnungen – so erzählt es die Legende - an der Hochschule für bildende Künste in Berlin. Bei der Aufnahmeprüfung fiel er einem Kommilitonen auf: »Karl-Heinz hatte eine große Linolplatte mitgebracht«, erinnert sich Peter Gramlich, »und fing sofort an, sie mit unterschiedlichen Messern zu bearbeiten«. Es sah aus, »als hätte er nie etwas anderes gemacht«, und am Nachmittag hatte sich vor seinem Arbeitsplatz »eine Schlange von Prüflingen« eingefunden, die »geduldig darauf wartete, dass er ihnen einen Abzug seines Werkes druckte«. Auch Rosa von Praunheim schaute »voller Neid... auf den langen, dünnen Karl-Heinz, der der Begabteste und Lebenserfahrenste von uns zu sein schien.«

So begann alles ganz wunderbar und vielversprechend. Und doch war das Los des Karl-Heinz Grage kein Glückslos. Zwar war auch er dazu bereit gewesen, den Wohlstand und die Bequemlichkeit der bürgerlichen Existenz gegen das unbequeme Wagnis einer Existenz als »freier Künstler« einzutauschen, doch dass selbst die Begabtesten unter ihnen ständig ums Überleben kämpfen mussten, das hatte womöglich auch er nicht erwartet. Das Leben blieb hart.

Am Plan des Karl-Heinz Grage freilich änderte das nichts mehr. Der Mann, der schon als Zwölfjähriger tagelang in der Kunsthalle gestanden hatte, blieb ein Leben lang auf Kurs. Auch dann, wenn dieses Kreuzberger Künstlerleben mit seinen langen Nächten einen hohen Preis kostete. Am Ende, 1990, bezahlte Karl-Heinz Grage dieses Leben sogar mit seinem Leben. Er war gerade fünfzig Jahre alt geworden. •


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