Kreuzberger Chronik
November 2010 - Ausgabe 122

Herr D.

Der Herr D. und das Glatteis


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von Hans W. Korfmann

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Von Menschen und Heuschrecken

Soll ich Ihnen aufhelfen? Der Herr D. hatte beobachtet, wie die junge Frau ein Bein in den Himmel streckte und dann der Länge nach auf den Rücken fiel. Da die Leute sich der Gestürzten nur zaghaft näherten und unschlüssig herumstanden, schritt er zur Tat. »Es geht nicht mehr«, jammerte die Frau. Der Herr D. versuchte sie zu beruhigen, doch sie schluchzte immer lauter.

Die Umstehenden wussten auch keinen Rat, aber sie begannen, auf den Winterdienst zu schimpfen und sich die Wartezeit auf den Notarztwagen mit einer angeregten Diskussion darüber zu verkürzen, wer denn für das Eis an der Unglücksstelle verantwortlich sei.

»Das ist doch ein Sittenverfall, dass sich hier niemand mehr verantwortlich fühlt«, ärgerte sich ein älterer Herr mit Hut. Ein noch älterer nickte: »Selbst 45, als wir nichts mehr zu essen und zu heizen hatten, da hat jeder vor seiner Haustür noch ´ne Handvoll Sand gestreut. Davon gibt es ja wahrhaftig genug hier in der Gegend.«

»Glauben Sie etwa, dass so ein moderner Hausbesitzer noch Zeit hat zum Streuen?«, schaltete sich eine Studentin ein.

»Ein-Euro-Jobber! Dann wären die endlich mal zu was gut«, sagte der mit dem Hut. »Auf jeden Fall müssen Sie Anzeige erstatten«, sagte der noch Ältere. »Gegen wen denn? Gegen den Hausbesitzer etwa?« Die Studentin zog eine Bierflasche aus der Tasche ihres Fellmantels. »Die sitzen doch in Japan oder Amerika. Das ist doch nicht wie früher, als die Häuser noch Menschen gehörten. Heute gehören sie den Heuschrecken. Und denen sind die vereisten Wege vor den Häusern so egal wie ihre Mieter. Solange die Miete zahlen.«

»Genau«, sagte der Ältere. »Ich frag mich nur, warum die Polizei, die den ganzen Sommer Strafzettel unter die Scheibenwischer klemmt, die Wege nicht kontrolliert. Ein parkendes Auto schadet doch niemandem, aber bei so einem Eis kann man sich doch den Hals brechen.«

»Das Ordnungsamt!«, rief der mit Hut. »Wozu haben wir eigentlich das Ordnungsamt? Da haben sie ein paar hundert neue Leute eingestellt, von unsern Steuergeldern, damit die für Ordnung sorgen auf den Straßen. Die ziehen dann los, um Gastwirte anzuzeigen, wenn einer nachts um zwölf ´ne Zigarette raucht.«

In diesem Augenblick kam der Krankenwagen. »Na, junge Frau, ausgerutscht? Mit den Stöckeln keen Wunder. Aber keene Sorje, Sie sind in bester Jesellschaft. Schon die Vierte heute, und alle so jung wie Sie. Vorm OP stehen se Schlange.« •


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