Kreuzberger Chronik
Mai 2010 - Ausgabe 117

Kreuzberger
Karin Polke

Vieleicht hat mich das ein bisschen streng gemacht


linie

von Ina Winkler

Titelfoto: Dieter Peters

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Wenn Karin Polke das linke Auge zukneift, was sie häufig und gerne tut, wenn sie mit einem Mitmenschen am Tisch sitzt, dann sieht es aus, als zwinkere sie ihm zu. Wenn dieses kurze Schließen des Auges jedoch kein Ende mehr nimmt, dann erweckt sie den Eindruck, als wolle sie ihren Gesprächspartner taxieren, als wolle sie ihn noch ein bisschen schärfer, noch etwas genauer betrachten.
Karin Polke besitzt ein freundlich zwinkerndes und ein strenges Wesen. Sie ist eine charmante Gesprächspartnerin, die ebenso plaudern wie zuhören kann, die Erzählern freundlich nickend bis in die hintersten Winkel ihrer Erzählungen folgt. Die aber auch plötzlich ernst werden, den Kopf schütteln und Einspruch erheben kann. Sie kann zwinkern und blinzeln, aber ein Auge zudrücken, das kann sie nicht. Nicht, wenn es um die Wahrheit geht.

Es ist schon einige Jahre her, - aber es könnte sich auch morgen genau so wieder abspielen - da wanderte sie mit einer Freundin ein Sträßchen im Süden Kretas entlang. Unterwegs trafen die Urlauberinnen auf zwei alte Griechinnen, in Schwarz gekleidete Witwen, die an einer Gedenkstätte Blumen niederlegten. Als sie merkten, dass die jungen Frauen aus Deutschland kamen, begannen sie, die Touristinnen als Nazis zu beschimpfen.
»Da habe ich so lange mit denen geredet, bis ihnen klar war, dass meine Familie mit den Nazis nichts zu tun hatte. Dass wir gegen die Nazis waren. Bis uns die Griechinnen mit in ihr Dorf genommen und eingeladen haben.« Denn bei allem Verständnis, das sie für die Opfer des II. Weltkrieges aufbringt, bei all den Friedensdemonstrationen und Ostermärschen, an denen sie teilnahm, bei all der sorgfältigen Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit und den unvergesslichen Momenten, als sie in Auschwitz stand, kann Karin Polke in solchen Momenten nur wieder den Kopf schütteln. Sie duldet keine Verallgemeinerungen und keine Kollektivschuld.

Sie ist ein Querkopf. Vielleicht wegen des Krieges, in den sie 1936 hineingeboren wurde. Der Vater musste an die Ostfront, »sonst hätten sie ihn abgeholt«. Der Vater war Bildhauer, und auch er hatte seinen eigenen Kopf. Deshalb drohte ihm das Konzentrationslager, seine Skulpturen hatten die Nazis bereits eingeschmolzen. Vielleicht ist Karin Polke auch deshalb ein bisschen ernster geworden als andere Kinder.
1940 ist sie mit ihrer Mutter vor dem Krieg von Dresden in ein kleines Dorf im Allgäu geflüchtet, nach Bolsterlang, in dem die Großmutter einen winzigen Hof besaß. Als Karin nach dem Krieg einmal nach Dresden zurückkehrte, stand das Haus nicht mehr. Das ganze Viertel war zerstört. Womöglich hat die Flucht aufs Land ihnen das Leben gerettet. So aber wächst Karin auf dem Land auf, treibt sich auf den Wiesen herum, schläft in der Bauernstube von Großmutter Sophie, in der sie alle schliefen und aßen und arbeiteten, in der die Kinder ihre Schularbeiten machten und spielten. Abends lagen sie oft noch lange wach und belauschten die Gespräche der Erwachsenen, die sich über den Krieg und über Hitler unterhielten. Großmutters Hof war »ein Nest«, bei ihr trafen sich viele, die vor den Verfolgungen der Nazis aufs Land geflüchtet waren, um vor dem Weltempfänger zu sitzen und BBC und Radio Beromünster aus der Schweiz zu hören. So erfuhren Karin und ihre Schwester schon früh von den Lagern der Juden. Vielleicht war es wirklich der Krieg, der sie ein bisschen strenger hat werden lassen als andere.

Auf den Wiesen Foto: Privat


»In Bolsterlang wussten alle von den Lagern. Und wenn man es in so einem winzigen Dorf wusste, warum sollte man es dann in den Städten nicht gewusst haben. Deshalb glaube ich es auch nicht, wenn jemand sagt, er hätte nichts gewusst.« Karin duldet keine Lügner. 1998 singt sie im Berliner Ensemble und im Hebbeltheater in einem Chor, der bei der Aufführung der »Berliner Ermittlung« von Peter Weiß auftritt. Auch darin geht es um jene, die behaupteten, nichts gewusst zu haben, auch da heißt es: »Ich bitte nur, darauf hinweisen zu dürfen, wie dicht der Weg von Zuschauern gesäumt war, als man uns aus unseren Wohnungen vertrieb und in die Viehwagen lud«.
Gesehen hat Karin die Vernichtungslager erst viele Jahre, fast ein ganzes Leben später. In Auschwitz steht sie vor dem »Haus der Torturen« und empfindet auch in diesem Augenblick wieder die unselige Last der Kollektivschuld. Sie schreibt in ihr Tagebuch: »Was haben wir uns doch für schreckliche Sachen einfallen lassen«. Was wirklich geschah in den Lagern, hatte das Kind in Bolsterlang nicht erahnen können.
Karin wuchs in der Abgeschiedenheit des Landlebens auf, der Krieg war so fern wie der Vater. Sie spielte auf der Wiese vor dem Haus, als sie eines Tages einen kleinen Punkt am hügeligen Horizont wahrnahm. Der Punkt wurde allmählich größer, er wanderte langsam über die weiß verschneiten Hügel, »genau auf unser Haus zu. Ich wusste sofort, dass das mein Vater war.« Der Krieg war aus, und die Familie zog von Bolsterlang ins nahe Oberstdorf, in einen langweiligen, viel zu kleinen Ort. Zum Tanzen musste sie nach München trampen, außerdem war »Oberstdorf auch klimatisch ganz ärgerlich« mit seinen langen Wintern und den kurzen Sommern. Inzwischen hat sich Karin Polke »mit Oberstdorf ausgesöhnt«, aber mit fünfzehn, als der Vater nach Düsseldorf zog, war ihr Oberstdorf plötzlich zu klein. Sie beschloss, mit ihm zu gehen. Wenn sie an die Abschiedsszene auf dem Bahnhof zurückdenkt, wo sie alle noch einmal gekommen waren, dann hat sie heute noch Herzklopfen. Die Mutter tat dem Querkopf plötzlich unendlich leid.

Auch auf der Schule in Düsseldorf setzte die Tochter ihren eigenen Kopf durch, wurde zur Direktorin zitiert, weil sie in Jeans zum Unterricht erschien. Ebenso wie Freundin Margarethe, die noch »viel auffälliger gekleidet war mit ihren
Margarethe von Trotta und Karin Polke, 2006, Notre Dame Foto: Privat
Margarethe von trotta und Karin Polke, 2006, Notre dame schwarzen Jeans.« Die beiden Querköpfe verließen die Schule »mit Schimpf und Schande«, Karin begann eine Ausbildung in einer Kunstglaserei und restaurierte die im Krieg zerbrochenen Kirchenfenster. Die Freundin war noch unentschlossen, »Margarethe ging in der Werkstatt ein und aus«, doch dann wandte sie sich dem Film zu. Auch viele Jahre nach dem unrühmlichen Schulabgang sind sie Freundinnen geblieben, stehen gemeinsam in der Notre Dame, um die kunstvollen Fenster zu bestaunen.
Auch ihr alter Freund Franz aus Düsseldorf hat Karin nicht vergessen und kommt regelmäßig nach Berlin. Franz, der eine so wichtige Rolle spielte, als eines Tages auch Düsseldorf zu provinziell für Karin wurde. »Geh doch nach Berlin, mach den 2. Bildungsweg, dann kannst du studieren! Du schaffst das«, hatte ein chinesischer Student zur Barkeeperin im Creamcheese gesagt, einer ziemlich extravaganten Kneipe, in der »Filme von Warhol gezeigt wurden und ständig Hendrix und Zappa liefen«. Also verließ sie ihren Mann, nahm ihre beiden Kinder, Georg und Anna,– »ich glaube, das nehmen mir heute alle drei noch übel« - und zog nach Berlin in eine WG mit dreißig Bewohnern in sechs Wohnungen auf drei Etagen in Ku´damm-Nähe. Sie war die einzige Frau mit Kindern in einem Haus voller Studenten. Hajo, der Physiker, und Franz, der Architekt, kümmerten sich um die Kinder, während Karin auf der Schule war. Franz wusste immer, wo Anna und Georg waren. »Ohne Franz hätte ich das nicht geschafft«.

Es war nicht einfach, das Leben in Berlin, zwischen Schule, Wohngemeinschaft, Politik und Kneipe, zwischen all den Demonstrationen in Berlin und Gorleben, immer mit zwei Kindern an der Hand. »Vielleicht hat mich das etwas streng gemacht«. Vielleicht war es nicht der Krieg, vielleicht waren es diese Berliner Jahre gewesen, in denen das Zwinkern, mit dem sie im Creamcheese ihre Freunde begrüßte, begann, länger anzuhalten. In denen die zweifache Mutter Publizistik und Psychologie studierte und begann, genauer hinzuschauen. »Berlin war viel politischer als Düsseldorf.«
Die Journalistin Ulrike Meinhof gehörte zu ihren Vorbildern, und als der Professor seinen Studenten auftrug, in einem sozialen Brennpunkt ein gemeinnütziges Projekt aufzubauen, zog sie mit engagierten Kommilitonen zum Klingbeilhaus, einem vielstöckigen Plattenbau, und sie fragten die Bewohner aus 18 Nationen, was sie am dringendsten bräuchten. So entstand Ende der Siebziger an der Ecke zur Potsdamer Straße der »Pallasladen«, ein Stadtteilbüro mit einer Mie
Jugendliche in der Winterfeldstraße 1982 Foto: Privat
terberatung, einer Informationsstelle für Sozialhilfeempfänger und für Jugendliche und deren Eltern.

Eigentlich hatte Karin Polke eine Reportage über das Klingbeilhaus machen wollen, »das war ein super Stoff«, und sie war ganz nah dran an den Menschen, die Mütter mit den vielen Kindern kamen und redeten ganz offen zu der Frau, die selbst zwei Kinder alleine großzog. Karin Polke hat ihre Erfahrungen in einigen Radiosendungen verarbeitet, doch irgendwie ist sie dann »vollkommen vom Journalismus abgekommen.« Statt über die Arbeit mit Jugendlichen zu berichten und zu theoretisieren, kümmerte sie sich nun selbst und ganz praktisch um die Jugendlichen, die von Zuhause weg wollten und in besetzte Häuser zogen. »Wir versuchten, sie davon abzuhalten, immer gleich loszuschlagen, wenn Polizei kam. Wir waren in der Rolle der Vermittler, und ich will nicht sagen, dass sie auf mich hörten – aber sie mochten mich!« Vielleicht, weil Karin genau so ein Querkopf war wie sie, weil sie die Schule nicht beendet und stattdessen ein Handwerk gelernt hatte, das auch in dem besetzten Haus in der Winterfeldstraße von großem Nutzen war, »da hab ich mindestens 30 Fenster eingesetzt.«
So wurde aus der Journalistin am Ende eine engagierte Stadtteilarbeiterin. Über zwanzig Jahre lang hat Karin Polke sich für Frauen und Kinder eingesetzt. Auch Karin Polkes Kinder sind inzwischen groß und längst eigene Querköpfe geworden, stehen mitten im Leben. Vielleicht sind sie ein bisschen streng geraten. Sagt Karin und kneift ein Auge zu – aber dieses Mal ist es nur ein freundliches Zwinkern. •
Karin Polke mit Tochter Anna Foto: Privat

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