Kreuzberger Chronik
Mai 2010 - Ausgabe 117

Geschäfte

Fashion Art - Outlet im Viktoria Quartier


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von Saskia Vogel

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Im Viktoria Quartier herrscht meist Totenruhe. Doch an zwei Tage in der Woche feiern Frauen hier schrille Partys


Nach durchtanzter Nacht wird ein Abendkleid professionell gereinigt, in Folie gehüllt und in der letzten Ecke des Schranks bis zum nächsten Einsatz mumifiziert. Ein Abendkleid trägt frau nur zu feierlichen Anlässen, und selbst wenn ein solcher nur alle zehn Jahre ansteht, ist die Robe vom letzten Mal »durchaus noch tragbar«. Kurzum: Der Neukaufbedarf an Abend- und Partyrobe scheint nicht groß. Soweit die Theorie.

Im Fashion Art gestaltet sich die Praxis ganz anders. Denn im Outlet-Store im Viktoria Quartier finden Abendkleider einen starken Absatz. Der Store ist nur an zwei Tagen die Woche geöffnet, bezeichnenderweise an den »Ausgeh«-Tagen Freitag und Samstag. Auf dem Gelände der ehemaligen Schultheiss-Brauerei hat der Laden weder Laufkundschaft, noch scheint er unter den Kiezbewohnern sonderlich bekannt. »Eine Boutique, wo, hier? Vielleicht möchten Sie doch in die Bergmannstraße?«, bekommt so manche Frau zur Antwort, wenn sie im Viktoriapark nach der Boutique fragt. Nur eine ältere Spaziergängerin weiß Bescheid: »Das ist doch diese Gewölbe-Halle voller Tanzkleider. Aber die hat doch immer zu.«



Am Freitag aber hat Fashion Art geöffnet. Bis zwanzig Uhr – für Notfälle. Auf einer turnhallengroßen Fläche hängen geschätzte Tausende Kleider, Röcke, Blazer, Blusen, Bolerojäckchen und Schals auf unprätentiösen Kleiderstangen. Hin- und hergeschoben, befühlt und betastet, vom Bügel gerissen und in Augenschein genommen von einer nicht gerade spärlich vertretenen Schar weiblicher Kundschaft. Und vor den Umkleidekabinen bilden sich kleine Schlangen. »Unsere Kundinnen akquirieren sich vor allem durch das Internet. Tippt frau »Abendmode Berlin« bei Google ein, dann landet sie auf unserer Seite«, erklärt Bärbel Sieglinski den großen Andrang. Neukaufbedarf für feine Kleidchen gebe es immer: Die Hochzeit der Freundin, das bestandene Abitur, die große Geburtstags-Sause.

Frau Sieglinski ist die blonde, elegante Beraterin in Bleistiftrock und Pumps. Eine erfolgreiche Verkäuferin für ausgefallene Textilien in einer abgelegenen Location braucht psychologisches Feingefühl: »Ich muss spüren, wann eine Dame Hilfestellung braucht und wann es ihr unangenehm ist, wenn ich vor der Kabine darauf warte, dass sie sich halbnackt vor dem Spiegel dreht.« Weitere drei Verkäuferinnen stehen ihr engagiert zur Seite, um für jede Kundin das passende Kleid zu finden. Ehrlichkeit genießt hohe Priorität. »Zwängt sich eine füllige Frau in ein kurzes Nichts aus Seide, so sage ich nicht, dass ihr das hervorragend steht. Ich habe den Anstand, ihr ein Kleid in Größe 50 rauszusuchen, wadenlang und ohne Spaghettiträger.«

Gerne spricht Frau Sieglinski von ihren »wunderbaren Kundinnen«, obwohl sie sich über die etwas stämmigeren »Zwäng-Kundinnen« oder die schlanken »Reiß-Kundinnen« auch schon ärgern mal kann. Schließlich werden ihre kostbaren Kleider bei den exzessiven Anproben oft beschädigt, »Verschlüsse platzen, weißer Chiffon wird mit Lippenstift beschmiert.« Ein bisschen mehr Sorgfalt bei der Anprobe wäre schon wünschenswert.

Da ein »Outlet« den eventuellen »Produktionsüberschuss« der Designerware nicht an Boutiquen und Zwischenhändler, sondern direkt an seine Kundinnen verkauft, hat das für sie einen Preisvorteil: Das orientalisch bestickte Seidenkleid ist schon für 299 anstatt für 745 Euro zu bekommen, junge Mädchen können zum Cocktailkleid für taschengeldverträgliche 79 Euro greifen. Und das champagnerfarbene Kostüm ist sogar seriös genug fürs Standesamt. Andere Teilchen hingegen können für Besuche in verruchten Etablissements zweckentfremdet werden. So ließe sich das halbdurchsichtige Glitzerhemdchen mit Push-up-Körbchen problemlos an der Türkontrolle im Kit-Kat-Club vorbeischleusen. Fast alle der ausgestellten Stücke sind mit Pailletten benäht, mit Taft abgesteppt, mit doppelt- und dreifachem Unterrock zu pompösen Prinzessinnenkleidchen hochgerüscht.

»Nein, Tageskleidung führen wir leider nicht«, muss Frau Sieglinski eine Kundin enttäuschen. Das wäre dann auch wirklich zu viel. Sie sei ohnehin schon den halben Tag damit beschäftigt, Berge erfolglos anprobierter Kleider wieder einzusortieren, ihre Kundinnen würden enorm viele Modelle erproben. Im Umkleidebereich geht es entsprechend zu wie auf einer Freitag-Abend-Frauen-Party.

Viel Gelächter, viele entsetzte »Oh Gott, oh Gotts« sind zu hören, bewundernde und neidische Blicke fliegen hin und her. Eine Mittvierzigerin hat ein grünes Etuikleid anprobiert und wird dafür von ihren Freundinnen als »Laubfrosch mit Kastenbrille« belacht. Eine Mutter zupft stolz lächelnd am Petticoat ihrer schlechtgelaunten Abiturienten-Tochter. Diese würde den Abschlussball am liebsten in Jeans bestreiten. »Das wird schon irgendwie gehen«, reagiert Mutti genervt auf die Nörgeleien ihrer Tochter, die meint, das Kleid würde Falten werfen, hat aber nicht mit dem resoluten Eingreifen von Frau Sieglinskis Verkäuferinnen gerechnet: »Na hören Sie mal, die junge Frau soll sich auf ihrem Abi-Ball doch wohlfühlen«. Noch ein Modell muss herbeigeschafft werden, und sei es das fünfzehnte. Im Fashion Art ist der Umtausch verboten, entsprechend sorgsam will die Wahl getroffen sein. Schließlich muss das Kleid perfekt für den makellos großen Auftritt sein. Danach wird es gereinigt – und bis 2020 als Mumie in den Schrank gehängt. •




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