Kreuzberger Chronik
Juli 2010 - Ausgabe 119

Geschichten & Geschichte

Nächtliche Sonnenanbeter


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von Werner von Westhafen

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Berliner Reporter berichteten über eine der längsten Kreuzberger Nächte
Natürlich wäre Berlin ohne den Kreuzberg verloren gewesen. Wann immer sich eine Gefahr, etwas Fremdes der Stadt näherte, stürmten die Bewohner ihren Hausberg und hielten Ausschau. Der Kurfürst Joachim flüchtete 1525 aus Angst vor einem sintflutartigen Regen auf Berlins höchsten Sandhügel, hier oben versammelten sich die Berliner, als Napoleon anrückte. Der Kreuzberg ist der Schicksalsberg der Berliner.

Doch nicht nur in ferner Vergangenheit, auch am 11. August des Jahres 1999 strömten die Massen zum Kreuzberg. Ausgerüstet mit dunklen Brillen, die plötzlich überall erhältlich waren, erwarteten sie das Spektakel, von dem die Medien seit Wochen schwärmten: Die letzte totale Sonnenfinsternis im 2. Jahrtausend nach Christus. Verkehrsampeln wurden auf Rot geschaltet, Sonderzüge rasten zum Schatten des Mondes durch halb Deutschland. Doch das Spektakel blieb aus, Wolken verhinderten die Sicht.

Auch im August des Jahres 1887 hatten die Zeitungen, angespornt durch erregte Astronomen, eine totale Sonnenfinsternis vorhergesagt und eine ähnliche Völkerwanderung einsetzen lassen. Was zuvor als finsteres Omen des Weltuntergangs galt und gemieden wurde, zog nun die aufgeklärten Massen an. Ein Mann namens Wilhelm Meyer hatte in der populären Gartenlaube nicht nur die naturverbundenen Laubenbewohner ausführlich über das Ereignis aufgeklärt, sondern ganz Berlin kurzerhand zu Hobbyastronomen gemacht.
Meyer fesselte seine Leser mit dramatischen Worten: »Sobald die Totalität eintritt (...), verwandeln sich ganz plötzlich Himmel und Erde wie von dem Zauberspruche eines bösen Dämons verdammt. Ein Schrecken überkommt alles, was lebt; der Pulsschlag der Natur scheint zu stocken, und wie im grauen Alterthum, so stürzen auch heute die abergläubischen Völker verzweifelt auf die Knie und bitten reumütig um Abwendung des fürchterlichen Zornes...«

Derart angespornt machen sich Tausende auf den Weg, um der Sonnenfinsternis ihre Aufwartung zu machen. Die Berliner Illustrierte Zeitung berichtet von einer Völkerwanderung, die in den frühen Morgenstunden des 19. August Richtung Süden zog. Die Dresdner Eisenbahn, die nach Marienfelde hinausfuhr, von wo man noch bessere Sicht haben sollte, hatte schon am Nachmittag alle Billets verkauft. Auch die für diese Nacht erlassene Fahrpreissenkung für die öffentlichen Verkehrsmittel der Stadt zeigte ihre Wirkung, »Droschken erster und zweiter Güte, Equipagen, Omnibusse, Pferdebahnzüge, Zwei- und Dreiräder, Möbel-, Bäcker-, Milch- und Bierwagen und andere schleunigst für den Personenverkehr eingerichtete Fahrzeuge rollten in langen, unabsehbaren, durch Laternen markierten Linien zu den Thoren oder Bahnhöfen hinaus, einige der vollgestopften Kremser trugen scherzhafte Plakate wie Sonnenbrüder, aus anderen Wagen schauten lange Fernrohre aus Pappe heraus«, und auf den »Bürgersteigen drängte sich ein gewaltiger, immer mehr anschwellender Menschenstrom« zum Kreuzberg und zum Tempelhofer Feld hinaus, »wo sich gegen vier Uhr eine nach zehntausenden zu schätzende Menschenmenge angesammelt hatte.«

Der Reporter der Vossischen Zeitung stellte fest, dass »die Stammgäste in den kleinen und großen Wirtshäusern« selten »mit solcher Unverdrossenheit dem heranbrechenden Morgen entgegengewacht« hätten wie in der Nacht zum 19. August. Obwohl das Spektakel zu einer Zeit erwartet wurde, »wo ein solider Mensch unmöglich schon ausgeschlafen haben, ein leidenschaftlicher Nachtschwärmer hingegen kaum nach Hause gelangt sein konnte, rüstete man sich auf allen Seiten mit Eifer zur Reise in die Finsternis.« Und überall, »wo sich die Schaulustigen in größeren Trupps begegneten, brach sich auch der urwüchsigste Berliner Humor in lautester Weise Bahn.« Da der Himmel auch damals zugezogen war, kursierte bald die Nachricht, dass »das Schauspiel eingetretener Hindernisse wegen auf 8 Tage verschoben worden« sei.

Berlin »war in ein einziges astronomisches Kollegium verwandelt«, selbst die »fliegenden Budiker, die Schnaps- und Kaffeeschänker, die Zigarrenhändler« und die Würstchenverkäufer gaben detailliert Auskunft über den aktuellen Stand der Himmelskörper, und »auf dem Tempelhofer Felde wartete schon eine Phalanx von Tausenden, die nicht wankten und nicht wichen, (...), und wem die Aussicht von der sanft ansteigenden Höhe noch nicht genügte, der suchte ein Auskunftsmittel durch Ersteigen der aufgethürmten Dunghaufen. Alles putzte die Krimstecher, riesige Fernrohre strebten wie Verderben speiende Kanonenrohre in die Luft. Einen eigenthümlichen Anblick gewährte es, hier und da kleine Flämmchen aufleuchten zu sehen. Es galt, den Beobachtungsgläsern noch die nöthige Berußung zu geben. Käuflich waren schwarze Gläser nur noch zu hohen Preisen zu haben«, ebenso wie der in Massen gezapfte »Protuberanzen-Liqueur«.

So starrten die Berliner in den Himmel, »doch leider vermochte der Feuerball den Wall von Wolken nicht zu durchdringen. Nur einmal leuchtete er in feuriger Sichel schüchtern hervor -dann wurde es plötzlich dunkel, der junge Tag war durch die Nacht verdrängt, das ganze Landschaftsbild erhielt eine grünlich-graue Färbung und erst nach zwei Minuten sah man aus der plötzlich zurückkehrenden Tageshelle, dass das Stadium der totalen Verfinsterung überwunden war.

Der Eindruck dieser letzteren war gewaltig und blieb als einziger aus der Exkursion zur Sonnenfinsternis haften, denn erst als der ganze Menschenstrom zu Fuß und zu Wagen der Reichshauptstadt sich genähert hatte, trat die Sonne in voller Pracht hervor, als spottete sie der vielen Menschenkinder, die sich von ihr ein Schnippchen hatten schlagen lassen.« •


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