Kreuzberger Chronik
Juli 2010 - Ausgabe 119

Reportagen, Gespräche, Interviews

Kreuzberger Füchse


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von Cord Riechelmann

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Es herrscht Fuchsalarm. Die Tiere erobern die Stadt. Kreuzberg mit seinen grünen Brachen und Parkanlagen gehört zum bevorzugten Revier.




Eschienen Himmelsschreie zu sein, hastige, in schneller Reihe aufeinander folgende, kurze »Arr-Arr« Rufe, die in einem mehrstimmigen Chor über den Bäumen an der Kindertagesstätte in der Methfesselstraße endeten. Das Gezeter nahm kein Ende mehr, es entfernte sich nicht und »bewegte« sich nicht von der Stelle. Es kam ganz eindeutig vom Spielplatz des Kindergartens.

Dort lag, kaum sichtbar, ein verängstigter Fuchs am Rand des Sandkastens. Hilflos, als wolle er sich verstecken, duckte er sich ins hohe Gras. Auch seine Feinde zeigten sich nun am Himmel: Es war ein gutes Dutzend Nebelkrähen, das, teils in den Bäumen sitzend, teils über Meister Reinecke kreisend, mit lauten Schreien seine Empörung kund tat. Die Vögel schienen in heller Aufregung zu sein, immer wieder brachen einzelne von ihnen aus dem Kreis des Dutzends aus und setzten zu Sturzflügen auf den Fuchs an. Von hinten anfliegend und von der Seite attackierend hackten sie ihm dabei auf den Rücken und den Kopf.

Die Krähen waren so angriffslustig und respektlos wie in Hitchcocks weltberühmtem Thriller. Der Grund war eine junge, gerade flügge gewordene Krähe, die der Fuchs erbeutet hatte. Im Laufe der fortgesetzten Attacken der Vögel zog der Fuchs es vor, auf seine zarte Beute zu verzichten und sich in Richtung Kreuzbergstraße und Gleisdreieck zu verabschieden.

Der Streit hat Tradition, es ist eine alte Fehde, die da auf dem Rücken des Fuchses im Viktoriapark ausgetragen wird. Die Füchse gehören -neben den Habichten, denen sie die Beute gern in der Luft abjagen - zu den Hauptfeinden der Krähen. Dass sich die schwarzen Vögel mit ihrem Gekrächze und ihren wagemutigen Operationen nicht nur gegen ihre Feinde zu wehren verstehen, sondern auch zu aggressiven Angriffen starten, ist bekannt und häufig beschrieben worden. Relativ neu an diesem alten Naturkonflikt ist, dass man ihn mitten in Kreuzberg beobachten kann.

Es scheint, als wäre Berlin seit dem Fall der Mauer nicht nur für Menschen und Immobilienhändler attraktiv geworden, sondern auch für die Tiere. An die 1.600 Füchse sind in den vergangenen Jahren von Wald und Feld in die Stadt gezogen. Es scheint, als hätten nur die Mauer und die Grenzposten der DDR ihre Einwanderung aufhalten können. Ähnlich wie die »Heuschrecken«, die in immer bedrohlicheren Scharen über Berlin herfallen, scheinen sie ein Faible für innerstädtische Quartiere zu haben. In der vereinten Stadt leben heute fünfmal so viele Füchse wie im Berliner Umland. Und sie scheinen sich dabei besser anzupassen als die zweibeinigen Einwanderer.

Als die Füchse begannen, in die Städte zu ziehen, was nach dem Zweiten Weltkrieg von England ausgehend zu einem europäischen Phänomen geworden ist, war der Straßenverkehr noch die häufigste Todesursache der Neubewohner. Davon kann heute keine Rede mehr sein. Die Biologen gehen davon aus, dass Füchse, wenn sie das erste Lebensjahr überstanden haben, in der Stadt durchaus alt werden können. Warum das so ist, kann man am Viktoria-Fuchs täglich beobachten: Der schlaue Fuchs lernt schlicht schneller als andere. Wenn Meister Reinecke aus dem Park kommt, um in den Gärten der Häuser an der Methfesselstraße auf Nahrungssuche zu gehen, bleibt er, ganz wie seine zweibeinigen Mitbewohner, zwischen den parkenden Autos stehen, schaut nach rechts und links, und überquert erst dann gemächlich die Straße. Ein Verhalten, dass zahlreiche Hundebesitzer ihren Tieren nur mühselig mit viel Befehlsgeschrei beibringen können. Der Fuchs ist ein Autodidakt.

Doch nicht nur die Tiere haben dazugelernt und sind mutiger geworden, auch die Menschen haben sich an ihre neuen Mitbewohner gewöhnt. Aufregung löst ein Fuchs im Park schon lange nicht mehr aus. Als kürzlich bei der Einweihung des temporären Denkmals für den Boxer Johann Trollmann ( Vgl. Kreuzberger Chronik Nr. 36 vom April 2002: »Trollmans aussichtsloser Kampf«) einer von ihnen seelenruhig zwischen den Zuhörern hin- und herlief, steckte einer der Umstehenden dem Fuchs unter der Hand eine Boulette zu. Der Fuchs nahm die Boulette gerne an und fraß in aller Seelenruhe, nur ein paar Meter von dem hundertköpfigen Menschenrudel entfernt, und unbehelligt von den Krähen.

Dem Fütterer könnte das Subversive seiner Aktion durchaus bewusst gewesen sein, denn dass das Füttern von Wildtieren wie Füchsen, Enten und Wildschweinen zum Problem geworden ist, dem der Senat mit Geldstrafen von bis zu 5.000 Euro pro Fütterung zu begegnen versucht, hat sich bereits herumgesprochen. Doch noch bleibt es in der Regel bei einer mündlichen Ermahnung der Tierfütterer, zumal sich die Polizei bei Verdachtsfällen in der Regel an Derk Ehlert wendet, den Wildtierbeauftragten der Stadt. Und Ehlerts Auftrag hat ausdrücklich eine eher beratende als strafende Funktion.

So ist der einstige Respekt des Menschen vor dem Fuchs längst ausgeprägter Zutraulichkeit gewichen. Zur Vorsicht vor dem schlauen Meister besteht auch kaum noch Anlass. Die Tollwut ist unter den Füchsen der Hauptstadt so gut wie ausgestorben, seit Jahren ausgelegte Impfköder haben die Krankheit eingedämmt. Auch der gefürchtete Fuchsbandwurm ist im Berliner Umland erfolgreich bekämpft worden. Kein Wunder, dass die Berliner ihre neuen Stadtbewohner freundlicher eingemeinden als manch anderen Neuankömmling, und dass sie dabei gerne vergessen, dass es sich auch bei den zutraulicheren Tieren immer noch um wilde Tiere handelt.
Die menschliche Tierliebe macht sich besonders dann bemerkbar, wenn eine komplette Fuchsfamilie am Straßenrand auftaucht, die Mutter voran, die Jungen hinterher. Junge Füchse sind ausgesprochen süß und tollpatschig, sie lassen das Herz eines jeden Kindes schmelzen. Allerdings haben auch die Fuchsmütter die ungemütliche Eigenschaft, ihre Kleinen vor allem Fremden heftig zu verteidigen, und sie sind in der Verteidigung viel wendiger und schlauer als etwa der Haushund.

All das – die Anpassungsfähigkeit des Fuchses an die veränderten Lebensbedingungen in der Stadt, die ausgeprägte Tierliebe der Berliner und die gute medizinische Versorgung durch den Senat – wird einer weiteren Verbreitung des Waldbewohners in der Stadt nicht im Wege stehen. Der Fuchs, so verschüchtert er mitunter auch in der Landschaft zu stehen scheint, fühlt sich ausgesprochen wohl auf den städtischen Wiesen. Schon kurz vor Weihnachten war das heisere Bellen des Viktoria-Fuchses in allen Himmelsrichtungen kilometerweit zu hören. Sein nächtliches Heulen und Bellen dauerte nicht selten halbe Nächte an und weckte nicht nur die schlafenden Hunde in den Häusern mit Fenstern zum Park. Sein herzerweichendes Klagen ließ auch den Kreuzberger Füchsinnen keine Ruhe mehr. Pünktlich wie im Walde hatte auch in Kreuzberg die Ranzzeit begonnen.

Was zur Folge hatte, dass Mitte Januar nicht mehr ein einsamer Fuchs, sondern ein Pärchen die Straßen und Dämme am Viktoriapark überquerte, um gemeinschaftlich die Mülltonnen zu inspizieren. Dabei gehen die Füchse am liebsten allein auf Nahrungssuche – ganz anders als die Wölfe, die übrigens laut BZ auch längst vor den Toren Berlins herumlungern. Die Regenwürmer und Mäuse, von denen sich die Füchse selbst in den Städten noch gerne ernähren, können sie auch ohne Rudel im Hintergrund überwältigen. Der Wald- und Wiesenfuchs ist der geborene Single, doch die Kreuzberger Spezies scheint einen geselligeren Charakter zu besitzen. Nicht nur, dass die Kreuzberger Füchse enger zusammenrücken als in freier Wildbahn, sie bilden sogar ihre kleinen Grüppchen. Wenn zu diesen Wohn- und Lebensgemeinschaften noch der Nachwuchs hinzukommt, dann ist aus den einzelgängerischen Vagabunden schnell ein beachtliches Rudel geworden.

Und wenn der Berliner Tierfreund tagsüber einen solchen Haufen in einer Hecke, einem Kellerloch oder in einem leer stehenden Autowrack schlafen sieht, dann sollte er ihn in Ruhe lassen und weiter seines Weges gehen. Denn anders als die »Heuschrecken« und andere zweibeinige Neuzugänge im Viertel sind die Füchse längst echte Kreuzberger geworden – und auch in kleinen Gruppen zum erbitterten Widerstand fähig. •


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