Februar 2010 - Ausgabe 114
Geschichten & Geschichte
Die kleinen Toten vom Gröbenufer von Hans W. Korfmann |
Es wird viel an Maueropfer erinnert. Doch nicht alle waren politische Flüchtlinge. Der kalte Krieg forderte auch zivile Opferm Herbst feierte man in Berlin den Fall der Mauer mit einer Großveranstaltung und Besuchern aus aller Welt. Trotz Rockkonzerten, Würstchenbuden und der euphorischen Reden internationaler Staatsoberhäupter über die friedliche Revolution, den Sieg des Volkswillens und eines aus Trümmern wieder auferstandenen Berlins vor dem Brandenburger Tor kamen in diesen Tagen auch einige Trauernde, die der Mauertoten gedachten. Die meisten von ihnen waren aus der ehemaligen DDR angereist und erinnerten an jene, die ihre Sehnsucht nach Freiheit oder Wohlstand mit dem Leben bezahlten. Doch nicht alle kamen aus dem ehemaligen »Osten«, nicht alle waren sich der Gefahren bewusst. Manche waren nicht einmal zehn Jahre alt, als sie an der Mauer des Kalten Krieges starben. Im Herbst 1972 spielte Cengaver Katranci mit einem Freund nicht weit vom Grenzübergang Oberbaumbrücke auf der Böschung der Spree. »Die Jungen gehen hinunter ans Ufer, sie stehen auf der schmalen Kaimauer und füttern Schwäne. Plötzlich verliert Cengaver Katranci das Gleichgewicht und stürzt ins kalte Wasser.« Ein Angler hatte sich bereits entkleidet, um, wie die Morgenpost schrieb, den Jungen zu retten, als ihm klar wird, dass die Grenzsoldaten schießen würden. Da kommt Hilfe, ein Feuerlöschboot der DDR nähert sich, die Menschen am Ufer winken und rufen. Doch das Schiff fährt weiter. Auf der Kaimauer stehen wenig später Rettungstaucher aus Westberlin, doch ein Offizier der DDR-Grenztruppen verweigert ihnen den Einsatz. Cengaver ist das erste Opfer vom Gröbenufer. Er ist acht Jahre alt. Siegfried Kroboth, der mit seinen Eltern erst wenige Jahre zuvor aus Ostberlin geflüchtet war, fällt am 13. Mai des folgenden Jahres in die Spree. Als die Polizei am Ufer eintrifft, hält sich der Junge noch über Wasser, indem er die Luft anhält und sich den Mund mit der Hand zuhält. Die Westberliner Polizisten müssen zusehen, wie der Junge ertrinkt. Wieder fährt ein DDR-Grenzboot an der Unglücksstelle vorüber, ohne anzuhalten. Erst vier Stunden später bergen Taucher die kleine Leiche. Und am 6. Juni 1973 spielt Giuseppe Savoca am Ufer der Spree. Ein Foto zeigt einen Jungen mit roten Backen unter einem großen Karnevalshut. Sie wollten, sagte der Freund später, »nur die Fische ankieken.« Die BZ berichtet, die DDR-Grenzer hätten einen Mann, der dem Jungen zu Hilfe kommen wollte, »mit der Schusswaffe bedroht«. Die Empörung der Bevölkerung ist groß. Die DDR muss Stellung nehmen. Im Protokoll heißt es: »Beim Angeln nach Gegenständen verlor das Kind das Gleichgewicht und fiel ins Wasser. Es paddelte kurzzeitig an der Wasseroberfläche und sank mit einhergehender Blasenbildung unter.« Der Grenzposten erstattete pflichtgemäß Meldung und fügte hinzu, dass »keine Aktivitäten der Menschen am Gröbenufer zur Rettung des Jungen« festzustellen gewesen seien. Im letzten Absatz des Protokolls gab er an, »unmittelbar nach dem Ereigniseintritt kein Dienstboot des Grenzregimentes am Ereignisort« gesehen zu haben, räumte aber ein, dass während »der Zeit seiner Meldung beim Das Verhalten der DDR-Grenzer ist ein Skandal. Unter dem wachsenden Druck der Öffentlichkeit sieht sich die DDR gezwungen, Verhandlungen über ein Abkommen zu »Erste-Hilfe-Maßnahmen im Bereich der Sektorengrenze« zu führen. Während die Gespräche geführt werden, feiert Çetin Mert seinen fünften Geburtstag auf der kleinen Wiese zwischen S-Bahn und Spreeufer. Es ist der 11. Mai 1975, ein sonniger Tag, die Geburtstagsgesellschaft möchte picknicken. Da fällt der Junge ins Wasser. Wenig später sind Westberliner Rettungskräfte am Ort, doch wieder dürfen sie nicht helfen. Passanten versuchen vergeblich, die Grenzposten auf den Vorfall aufmerksam zu machen. Erst eineinhalb Stunden später wird der Leichnam von Çetin geborgen. Kaum fünf Meter vom Ufer entfernt! Jetzt wird das Gröbenufer zu einem Ort der Kundgebungen. Was die Deutschen nie gewagt hätten, wagen 2.000 Mitglieder der Türkischen Gemeinde Westberlin. Akten der Staatssicherheit dokumentieren den Text der Sprechchöre: »Mörder, Mörder, Kindermörder!« und »Nieder mit der Schandmauer!« Und endlich kommt auch Westberlin auf die Idee, das Ufer, das vier Kinderleben forderte, mit einem Drahtzaun abzusichern. Böse Zungen behaupteten, die toten Kleinen seien den Westdeutschen gerade recht gekommen, um die menschenverachtende Politik der DDR anzuprangern. Im Oktober endlich wird das Abkommen mit der DDR geschlossen. Doch bis heute erinnert kein Mahnmal an jenen Ort, an dem die Kleinen ertranken, während die Großen zuschauten. • |