Kreuzberger Chronik
April 2010 - Ausgabe 116

Briefwechsel

Spießer sind immer die anderen


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von Ariane Metzger

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zum Leserbrief von Gertrud Winzer in der Kreuzberger Chronik Nr. 115

Sehr geehrte Kreuzberger, liebe Gertrud Winzer,
Spießer, das sind immer die Anderen. Aber es hilft in der Umbruchsituation, in der sich Kreuzberg befindet, wenig, wenn sich die im Gebiet wohnenden Gruppen gegeneinander aufhetzen lassen. Das eigentliche Problem besteht doch darin, dass bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Immobilienbesitzer die Mieten dermaßen in die Höhe schrauben, dass ein schneller Austausch großer Teile der Bevölkerung die automatische Folge ist. Damit geht zwangsläufig jene Mischung verloren, aus der sich die Kreuzberger Bevölkerung bislang zusammengesetzt hat. Ein Gefühl von Fremdheit im eigenen Kiez wird sich unter den Zurückbleibenden einschleichen, soziale Spannungen werden die Folge sein.
Dabei hat bislang alles gut funktioniert. Dieser Kiez war eben nicht zum Ghetto geworden, hier wohnten Arme und Reiche zusammen, Migranten, Studenten, Rentner, Selbständige, Hartz IV-Empfänger, Professoren, Kulturschaffende. Dass diese Mischung funktioniert und keine großen negativen Schlagzeilen bewirkt hat, beweist die Qualität und die Zukunftsfähigkeit dieser Mischung. Jetzt aber ist dieses in Jahrzehnten gewachsene Biotop ernsthaft bedroht.
Um der Bedrohung Einhalt zu gebieten, müssen die Mieten begrenzt werden. Die Attraktivität des Bergmannkiezes mit seiner bunten Bevölkerung und den Gründerzeitfassaden hat das Geld angelockt. Und das Geld ist gerade dabei, diese Attraktivität zu zerstören.
Sogar der Kreuzberger Bürgermeister Dr. Franz Schulz beklagt, »dass man ohne irgendeine Wohnwertverbesserung innerhalb von drei Jahren die Miete um 20 Prozent anheben darf!« Er schlägt vor, eine Mieterhöhung an die Inflationsrate zu koppeln. Das wären maximal 9%. Drüber hinaus will er bei Neuvermietungen nur noch eine Erhöhung bis zum Durchschnitt des Mietspiegels zulassen.
Eine dafür nötige Bundesratsinitiative allerdings lehnt die ehemalige Kreuzberger Stadträtin und jetzt zuständige Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer von der SPD ab. Gegenüber dem RBB erklärte die umstrittene Politikerin: »Wir sind der Auffassung, dass die bestehenden bundesrechtlichen Regelungen….einen ausreichenden Schutz der Mieterinnen und Mieter gewährleisten.«
Die bestehende Regelung jedoch ist faktisch eine Lizenz zum Gelddrucken für Haus- und Grundbesitzer. Und sie ist der Ausdruck jener Denktradition, die uns vor zwei Jahren in die Finanzkrise geführt hat. Doch was soll man in postdemokratischen Zeiten dazu sagen? Der Tanz ums Goldene Kalb geht weiter. • Ariane Metzger

Wir verlosen unter den Einsendern der originellsten, wichtigsten oder dümmsten Leserbriefe wieder zwei Karten für eine Vorstellung im Mehringhoftheater.

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