März 2009 - Ausgabe 105
Kreuzberger
Nanke Meems Alles, was Du brauchst, ist ein bisschen Eis unter den Kufen
von Hans W. Korfmann
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>ES WAR im Sommer 1990. Nanke Meems war gerade 18 Jahre alt. Da beschloss sie, der holländischen Heimat den Rücken zu kehren, zu ihrem Freund nach Berlin zu ziehen und das Abitur auf einem Gymnasium in Steglitz zu machen. Sie stand am Anfang eines neuen Lebens, die Berliner Mauer war auch gerade gefallen, und als Roger Waters das Ereignis mit einem gigantischen Konzert feierte, war auch die junge Holländerin unter den 300.000 Besuchern vor der gigantisch hohen Bühne. Doch während Roger Waters und seine Musiker ihren Instrumenten sphärische Klänge entlockten, während die Scheinwerfer das Menschenmeer in grelles Licht tauchten, wurde es um Nanke plötzlich still. Ihr wurde schwarz vor Augen. Der Boden schwankte, sie stürzte. Das Herz stand still. »Und dann wurde es hell, strahlend hell, ein weißes Licht, eine weiße Fläche, und ich erkenne, dass das eine Leinwand ist, und vor diese Leinwand tritt ein kleines Mädchen. Es lacht und lacht. Und dann, ganz plötzlich, fängt dieses kleine Mädchen an zu weinen. Ganz fürchterlich zu weinen.« Fünfzehn Minuten lang war sie bewusstlos, versuchte man vergeblich, die junge Frau ins Leben zurück zu holen. Es war nur eine Viertelstunde, doch in dieser Viertelstunde zwischen Leben und Tod verbargen sich achtzehn lange Jahre. In den wenigen Minuten, in denen das Herz still stand, steckte ihr ganzes Leben. Sie begriff: »Das weinende Kind auf der Leinwand, das war ich! Und plötzlich war da ein ganz klarer Gedanke: Ich will nicht so enden wie dieses kleine Mädchen, weinend und resignierend. Ich muss noch einmal zurück.« Und dann, ganz leise, wie aus weiter Ferne, drang die Musik wieder in ihr Bewusstsein ein! Inzwischen sind noch einmal 18 Jahre vergangen. Nanke Meems ist immer noch in Berlin. Sie ist kein kleines, weinendes Mädchen mehr. Sie lacht. Sie kommt mit schnellen, kurzen Schritten die Treppen herauf, eine bunte Lederjacke, die Augen schwarz geschminkt, auf dem Rücken den E-Bass mit dem langen Hals. Musik hat sie damals ins Leben zurück geholt, Musik war seitdem ihr ständiger Begleiter. Damals im besetzten Haus in der »Köpi’«, im Tommy-Haus und im Drugstore. Mit den Musikern von AO Wollok tourte sie durch Deutschland und sogar durch Spanien, war mit dabei, als die Band in einer kleinen, von ein paar Punks besetzten Kirche im Baskenland spielte. »Am Ende war die Kirche voll, das halbe Dorf war da!« Nanke erzählt mit Tempo. In kleinen, schnellen Sätzen. So, wie sie die Treppe hinauf springt, mit kleinen, schnellen Schritten. Wie eine Eisschnellläuferin beim Start. Obwohl sie die langen Strecken bevorzugt. Ihre Stärke ist die Ausdauer. Und sie mag das Meditative, sie verliert ihr Ziel nicht aus den Augen. Auch dann nicht, wenn sie stürzt. So wie damals bei den Amateurmeisterschaften. Als sie in die Kurve geht und plötzlich sieht sie »Snake« dort stehen, ihren Kommilitonen. Sie hatten sich vor drei Tagen auf einer Sylvesterparty kennen gelernt, und jetzt stand er da. »Das war zu viel für mich. Da bin ich einfach gestürzt. Und trotzdem noch Zweite geworden.« So ist sie. Nanke Foto: Michael Hughes
Der Mann aus der Kurve wurde der Vater ihres ersten Kindes. Er war der Gitarrist von AO Wollok. Nanke und »Snake« waren »ein Superteam«. Als sie sich trennten, folgte der nächste Sturz. Ein schwerer Sturz. Ein Abgrund tat sich auf, Einsamkeit schlich sich ein. Es war nicht leicht, das alles zusammen zu bringen, das Kind, die Musik, das Biologiestudium, den Job am Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei. Zuerst als studentische Hilfskraft, dann als technische Angestellte, dann als Diplomandin, als wissenschaftliche Mitarbeiterin und zum Schluss als Doktorandin. Es war schön am Institut am Müggelsee, vor allem, wenn der See zugefroren war. Dann war es ein bisschen wie damals, als sie über die Grachten zur Schule lief. »Im Sommer, mit dem Fahrrad, war der Schulweg fünf Kilometer lang. Im Winter, mit den Schlittschuhen übers Eis, war es nur noch halb so weit.« Die Winter waren schön in Holland, oben am Ijsselmeer, nicht weit von der Nordsee. Die Winter, in denen die Holländer dann doch ein bisschen näher zusammenrückten, weil Seen und Kanäle zugefroren und die Wege zu den Nachbarn kürzer waren. Die Winter, in denen sie sich mit ihren Schlittschuhen auf dem Eis trafen. »Holländer tauen erst auf, wenn das Wasser gefriert«, sagt Nanke und empfindet ein bisschen Sympathie dabei. Eigentlich aber mochte sie die Bewohner der holländischen Dörfer nicht sonderlich, aber im Winter war das vergessen. Am Müggelsee gab es nichts zu vergessen. Da fühlte sie sich auch im Sommer wohl. Die »Berliner Schnauze« war ihr sympathischer als die seichte Freundlichkeit der Holländer. Schon auf dem Gymnasium in Steglitz war ihr aufgefallen, wie intensiv sich die Deutschen mit ihrer Geschichte und ihrer Schuld beschäftigten. Auf der Dorfschule in Holland wurde geschwiegen. Und verschwiegen. Das behagte ihr nicht. Doch auch im Institut wurde es eines Tages unbehaglich. Je weiter sie die akademische Leiter hinauf kletterte, umso mehr Neider säumten ihren Weg. Um ihre Diplomarbeit zu schreiben, zog sie sich in den Wohnwagen ihrer Eltern ans Ijsselmeer zurück, weil sie am Müggelsee • keine Ruhe mehr fand. Einen Ort, an dem sie ihre Doktorarbeit hätte schreiben können, fand sie nicht mehr. Nanke Meems kündigte und ging zum Arbeitsamt. Die Frau hinter dem Schreibtisch sah eine allein erziehende Mutter vor sich sitzen, ohne Abschluss und ohne Ausbildung, arbeitslos und orientierungslos. Doch die Eisschnellläuferin lässt sich so leicht nicht aus der Bahn werfen. Sie stürzt, steht auf, läuft weiter, gewinnt. Wo andere aufgeben, entdeckt sie eine verloren gegangene Freiheit wieder. Ihr Sohn war jetzt in der Schule, und Nanke, die Studentin, Mutter und Institutsangestellte, deren Terminkalender kaum eine Lücke zum Schlafen gelassen hatte, entdeckte die Zeit wieder. »Ich habe wieder zu mir selbst gefunden. Und ich habe gelernt, nicht mehr Ja zu sagen, wenn ich Nein meine.« Was folgte, waren vielleicht ihre »besten Jahre«. Jahre voller Musik, Ideen, Kreativität, Spaß. Immer wieder brannte das Essen an, weil ihr während des Kochens ein Song einfiel und sie schnell ins andere Zimmer musste, wo ihr Bass stand. Und dann war da eines Tages so ein Riff, der sie nicht mehr los ließ, und während sie spielte und spielte, kamen ihr Worte in den Sinn, »ganz von allein: Manches reift ewig, bis man´s versteht / Ich wusste nicht, dass ein Teil von mir geht…« So beginnt ein Song der Crumpets. Jener vier Musikerinnen, die auf ein paar Partys ein paar Lieder spielten, und schon war die Rede von einer neuen »Mädelsband«. Obwohl eines dieser »Mädels« genau genommen schon 46 war. Es dauerte nicht lange, da probten die Crumpets in den Studios der Naunynritze, spielten als Vorband von Peter Subway oder traten im Kato, im Cortina Bob oder im Optica Club beim Friedrichstadtpalast auf. Sie spielten auf der Fête de la Musique, sie hatten Erfolg. Doch der Erfolg ist der Bassistin nie zu Kopf gestiegen. »Anfänger machen halt supergute Musik. Die müssen zusammen spielen und zusammen halten. Bei den Profis spielt jeder für sich, der besser als der andere.« Nanke Meems ist zu oft gestürzt, um in Siegesräusche zu verfallen. »Natürlich ist Erfolg was Schönes«, aber das Schönste sind doch die Proben. Und danach mit den andern Frauen in die Kneipen. Aber Frauen bekommen Kinder. Die Schlagzeugerin ist schwanger. Die Crumpets gehen auseinander. Doch Nanke lässt sich nicht aus der Bahn werfen. Sie strauchelt, steht auf und rennt weiter. Schon probt sie mit einer neuen Band. Sie macht Tempo, stürmt los, mit kleinen, schnellen Schritten. So wie damals, als sie mit ihren blank geschliffenen Kufen um die Eisbahn sauste und plötzlich »Snake« in der Kurve stehen sah. So wie damals, als sie ihren Job aufgab. So wie damals, als sie das kleine, weinende Mädchen vor der weißen Leinwand sah. Und so wie damals, als sie zum ersten Mal diesem merkwürdigen Alten begegnete, vor dem sich alle Kinder der Gegend fürchteten. Diesem miesen Krüppel mit seinen miesen Söhnen, die allen kleinen Mädchen hinterher stiegen und sie in dunkle Winkel lockten. »Alle im Dorf wussten das, aber niemand sagte etwas! Niemand. Sie haben alle geschwiegen.« Alle. Außer Nanke. Sie hat das Eis des Schweigens gebrochen. Sie konnte das eigentlich schon damals nicht: Schweigen. Das war wie »Ja sagen, wenn man Nein meinte.« Sie war achtzehn, als sie die Heimat verließ. Jetzt steht sie mit einer Frauenband auf der Bühne, sie spielt Bass und singt. Sie singt mit lauter, kräftiger Stimme. Sie mag den rauen Ton, die Musik der Großstadt. Nur manchmal schleichen sich leise Töne ein, Töne, die lange nachklingen, und die denen, die zuhören, noch Tage lang durch den Kopf gehen. »Manches reift ewig, bis man´s versteht….« • |