Juni 2009 - Ausgabe 108
Kreuzberger
Mustafa Derya Irgendwann habe ich gemerkt, dass er mit »Morgenland« mich meinte
von Hans W. Korfmann
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ER SITZT über Bücher und Papiere gebeugt am Sekretär. Er ist kaum sichtbar hinter den riesigen Kissen voller Troddeln und Bordüren, den Teppichen und den bunten Decken aus dem Land der Derwische; den perlenbestickten Schmuckschatullen, ebenhölzernen Teetischchen, hinter dem feinmaschigen Moskitonetz über dem gewaltigen Himmelbett; den Buddhastatuen unter marokkanischen Messinglampen und dem hauchdünnen, azurfarbenen Schleier, den eine orientalische Schönheit abgelegt haben muss, als sie sich hinter dem kunstvoll geschnitzten Paravent ihrer Kleider entledigte. »Ich mag es, wenn man in einen Laden reinkommt und sich augenblicklich wohl fühlt.« Mustafa Derya könnte ein Teppichhändler in Istanbul oder Taschkent sein, eine Figur aus 1001 Nacht. Doch der Händlern des Morgenlands sitzt am Kreuzberg. Seine Kunden sind romantische Frauen voller Fernweh und nüchterne Männer, die keine Zeit zum Handel haben. Männer wie Christian Ströbele oder Volker Schlöndorff, die auf der Suche nach politisch korrekten Tischen aus recyceltem Teak bei ihm vorbeikommen. Sie mögen Mustafa Derya, er ist so etwas wie der Botschafter des Morgenlandes, und es ist kein Zufall, wenn sein Geschäft diesen Namen trägt. Es ist der Ausdruck seiner engen Verbindung zur Heimat. Einer Verbindung, die nie abreißt, so lange er auch in Berlin bleiben wird. Mustafa war sechs Jahre alt, als sie von der grünen Schwarzmeerküste aufbrachen. Hüseyin Derya, der Vater, hatte schon zwei Jahre zuvor die Haselnussplantage und das Holzhaus mit den Kühen, Ziegen, Hühnern und Menschen verlassen. »Unten standen die Tiere, oben schliefen wir. Und es war immer warm da oben!« Trotzdem war das Leben mühselig. Tagelang war der Vater unterwegs mit seinen Tieren, Ziegenlämmer auf den Schultern, die er verkaufen wollte, um Mustafa und seine 8 Geschwister satt zu kriegen. Sie hatten keinen Strom, das Wasser zogen sie aus dem Brunnen, Läden gab es keine in der Nähe und »Autos kamen zwei im Jahr vorüber«. Die Kleider nähte die Mutter selbst, den Stoff besorgte sie in Trabzon. Einmal im Jahr fuhren die Eltern zum Einkaufen, für die Kinder aber gab es immer nur das hügelige Land. Dieses Land mit seinen Weiden und seinen Haselnüssen, »grün ohne Ende«. Mustafa hat Augen braun wie Haselnüsse. Aber wenn er von den Wiesen erzählt, schimmern sie ein bisschen grünlich. »Ich weiß noch, wie wir in die Stadt zum Flughafen fuhren. Ich war noch nie in der Stadt gewesen und lief über die Straße. Ich habe auch den Lastwagen gesehen, aber ich hatte kein Gefühl für die Geschwindigkeit. Plötzlich sehe ich, wie er kurz vor mir auf die andere Fahrbahn ausweicht und in den Graben fährt. Ich bin abgehauen, so schnell ich konnte!« Sie landeten in Schönefeld, eine Mutter mit sieben Kindern. Sie sprachen kein Wort Deutsch. Plötzlich wurde ihr Name ausgerufen, »Derya, und ich erinnere mich noch, wie da so viele Menschen sind, die alle um uns herumstehen, und dann öffnet sich diese Menschenmenge und wir schreiten da durch, alle Hand in Hand, meine Mutter und die sieben Kinder, und die Leute stehen da und applaudieren wie auf der Mit Ricoh am Mariannenplatz Mai 2009 Foto: Michael Hughes
Den zurückgekehrten Eltern geht es gut, die Mutter läuft noch immer wie ein Wiesel die Berge hinauf und erntet Nüsse, und der Vater hat vom Ersparten ein Haus in Istanbul gebaut. Jetzt lebt die Familie nicht mehr von Haselnüssen, sondern von Mieteinnahmen. Auf dem Acker dahinter hat der Vater aber gleich wieder Haselnüsse angepflanzt. »Obst, Gemüse, alles wächst da! Und dann hat er drei Brunnen gegraben und Zisternen angelegt. Im Sommer kommen jetzt die 20-Tonner und tanken Wasser bei ihm.« Mustafa hat klare Augen. Aber wenn Mustafa von seinem Vater spricht, werden sie ein bisschen wässrig. »Mein Vater konnte kein Wort lesen, aber er hat sich immer durchgeschlagen«. Er ist längst Millionär, und wenn die Kinder in Deutschland mal Geld brauchen, dann hat er eins. Seit sieben Jahren ist Mustafa selbst Vater, und Mustafa sagt: »Um erfolgreich zu sein, brauchst du keine Ausbildung. Alles was du brauchst, ist ein bisschen Not. Dann schaffst du es!« Drei Taxis brauchte die zehnköpfige Familie für die Fahrt von Schönefeld nach Kreuzberg. Der Vater hatte für seine große Familie eine alte Bäckerei in der Muskauer Straße angemietet, in deren hinteren Räumen noch die Knetmaschinen standen. Eines Tages kam der Vater mit ein paar Schafen an und trieb sie durchs Wohnzimmer nach hinten zum Schlachten. Die Kinder beauftragte er damit, die Innereien im Schutz der Dunkelheit in einer nahe gelegenen Baugrube zu entsorgen. »Am nächsten Morgen, als ich zur Schule gehe, sehe ich da Polizei und Feuerwehr und lauter Leute in weißen Kitteln, die alle ganz aufgeregt auf der Baustelle herumlaufen und die Säcke wieder aus der Grube holen. Da bin ich schnell abgehauen. So früh war ich noch nie in der Schule gewesen!« Auch in der Wohnung hatte das Schlachten für Unruhe gesorgt. Die Abflüsse waren verstopft, Rico musste kommen. Rico, der Bastler, der seine Werkstatt im Souterrain auf dem Weg zur Schule am Mariannenplatz hatte, und dem Mustafa zuvor geholfen hatte, eine Waschmaschine auf die Straße zu transportieren. Rico reparierte jedes Fahrrad, alle Jungs im Viertel kannten ihn. Auch Mustafas Bonanza-Rad bekam er hin. Der Sattel war fest gerostet und stand so hoch, dass Mustafa immer im Stehen fahren musste. Da sagte Rico: »Brings mal runter!« • Mustafa und seine Geschwister Foto: Privat
Seit dreißig Jahren kennen sie sich jetzt, der kleine türkische Junge von damals mit seinem Fahrrad, und der heute sechzigjährige Deutsche, dem im Winter immer die Finger einfrieren, »von den vielen Roth-Händle und dem vielen Rotwein«. Auch Mustafa trinkt gerne Wein, liebt die Italienische Küche, geht mittags zum Essen über die Straße in die Osteria. Das Leben ist kurz. Und er hat viel zu viel gearbeitet, immer nur gearbeitet. Sie waren kaum angekommen in Berlin, da begannen die Kinder des Einwanderers von der nahen Schwarzmeerküste mit dem Holzverkauf. »Die ganzen Abbruchhäuser waren ja voller Holz. Wir sind rein und haben die Balken rausgeholt, zersägt und an die alten Frauen verkauft.« Denen steckte noch immer der Winter von 45/46 in den Knochen. Sie »hamsterten Holz, wo immer sie konnten. Und sie mochten die Kinder!« Sogar die Kinder der Türken. »Es war schon merkwürdig, dieses Berlin nach dem Krieg, diese kaputten Häuser, und lauter alte Leute, lauter alte Frauen. Ich hatte immer das Gefühl, die hätten uns am liebsten sofort adoptiert. Die Frau Stampka mit ihren Papageien, oder Frau Morbe vom Bäckerladen an der Ecke. Und Frau Nüsse. Die hat mich an der Hand genommen und ist mit mir zum Weihnachtsmarkt gegangen, um Süßkram zu kaufen. Bei ihr haben wir das Holz sogar im Keller aufstapeln müssen.« Eines Tages riss Mustafa mit einer Holzlatte die Wasserleitung aus der Wand, der Keller stand knietief unter Wasser, und Frau Nüsse versuchte panisch, das Holz zu retten. »Ein paar Tage später hab ich sie wieder gesehen, sie wollte, dass ich ihr ein bisschen Holz in die Wohnung trage. Und wie sie so die Treppe vor mir hoch läuft, bemerk ich, wie ihr so was Braunes die Beine runterläuft, und wie es zu stinken anfängt. Ich seh noch, wie sie die Treppe hoch stürmt und die Tür hinter sich zumacht. Ich hab das Holz im Treppenhaus abgelegt und bin wieder mal abgehauen. Ein paar Tage später war sie tot, und ich war sicher, dass ich Schuld daran war. Das Wasser war zu kalt gewesen für sie.« So vergingen die ersten Jahre in Kreuzberg, und als das Holz in den Häusern aufgebraucht war, sammelten sie Kupferleitungen, Wasserrohre, Weißblech und brachten es zum Altwarenhändler am Mariannenplatz. Den Rest der Nachmittage verbrachten sie auf dem Fußballplatz, oder auch in dem Laden, den der Vater in der Skalitzer Straße eröffnet hatte. Es war ein Gemüseladen mit angeschlossener Schlachterei, Gör-Tat hatte der Vater darüber geschrieben, was so viel bedeutete wie Leben und Essen. »Die Leute mochten uns, die kamen gerne zu uns, vielleicht, weil immer irgendeins von den Kindern an der Kasse saß. Weil wir die einzigen waren, die wenigstens ein bisschen rechnen konnten. Manchmal ging die Schlange bis auf die Straße raus.« Aber irgendwann war die Kindheit vorbei, und Mustafa trat in die Fußstapfen des Vaters: Er eröffnet in der Monumentenstraße Nr. 25 einen kleinen Gemüseladen. Zwei Jahre später fragte ihn der Besitzer einer nahegelegenen Fleischerei, ob er nicht seinen Laden kaufen wolle. Der Besitzer der Metzgerei »Bialas« eröffnete die Verhandlungen mit 60.000 Mark. Am Ende bekam Mustafa den Laden in der Katzbachstraße für 2.000. Er warf alles raus, was drin steckte, klebte eine Bast-Tapete an die Wand, stellte Ikea-Regale hinein, eine Leiter unter das Ladenschild und übermalte die letzten drei Buchstaben von »Bialas« mit weißer Farbe. Und aus dem »a« machte er ein »o«. Bio. Die Achtzigerjahre hatten begonnen. »Und dann kamen die ersten Kunden. Es war ein Alptraum! Ich hatte keine Ahnung, und die fragten plötzlich nach rechtsdrehender und linksdrehender Milchsäure, waren biologisch-dynamisch oder makrobiotisch. Aber am Ende hab ichs ihnen schon beim Reinkommen angesehen, ob sie Rechtsdrehende oder Linksdrehende waren.« Leider musste Mustafa das Geschäft wieder aufgeben. Der so genannten »Energiebällchen« wegen, die so wunderbar schmeckten. »Nach zwei Jahren war ich selber so ein Energieball. Und weil die vom Militär in der Türkei immer bei mir anfragten, dachte ich mir, das ist die richtige Zeit jetzt!« In drei Monaten nahm Mustafa zehn Kilo ab, und als er nach Berlin zurückkehrte, war er fit fürs nächste Unternehmen. Er lieh sich Geld vom Vater, baute zwei Jahre lang einen alten Schraubenladen in der Nähe des Görlitzer Bahnhofs zu einem Café-Restaurant um und nannte es Morgenland. Er wollte einen Laden machen, in den man »reinkommt und sich augenblicklich wohl fühlt.« Der Laden funktionierte. »Das Morgenland war vom ersten Tag an voll.« Es war eines der ersten Lokale, in dem sich Türken und Deutsche, Alte und Junge, Männer und Frauen endlich trafen. Es dauerte nicht lange, da war das Morgenland Kult. Es gab Reservierungen für Wochen im Voraus, »da saßen die Leute mit ihren Tellern draußen auf den Autos«. Zehn Jahre lang war Mustafa Kneipier, dann hatte er das Nachtleben satt. Er suchte nach etwas Ruhigerem. So kam er zum Kreuzberg. Gegenüber liegt der Park mit seinen großen Wiesen und den Ziegen im Gehege. Die Heimat mit ihren Haselnüssen und den Tieren und dem »Grün ohne Ende« hat ihn noch nicht wieder eingeholt. Aber sie ist näher gekommen. Schwarze, in der Sonne glänzende Schaukelpferde stehen vor seinem Laden mit den dicken Kissen und den bunten Decken. Manchmal sitzen die Kinder darauf und reiten. »Dafür hab ich sie doch hingestellt. Ich erinnere mich, wie ich eines Tages mit den Kühen von der Weide zurück kam, und da stand plötzlich ein großes, weißes Pferd im Stall. Wir führten es zur Moschee, kletterten auf die Mauer und sprangen von dort auf seinen hohen Rücken. Manchmal saßen wir zu dritt da drauf, und ritten in die Welt hinaus.« Mustafa Derya ist ein guter Erzähler. Keiner dieser Geschichtenerzähler, die zwischen Schlangenbeschwörern und Teppichhändlern ihr Geld mit Märchen verdienen. Er erzählt schnörkellos und geradlinig von dem, was war und was ist. Er ist so etwas wie ein Botschafter. Ein Botschafter des Orients. Und es ist kein Zufall, dass er sein Restaurant und seinen Laden mit den Messinglampen und den vielen Kissen Morgenland genannt hat. Es war der Vater von Alexandra gewesen, seiner ersten großen Liebe, der ihm die Bedeutung dieses Namens näher brachte. Ein übellauniger Deutscher, und ein notorischer Trinker, der, wenn er zu viel getrunken hatte, in der Küche herumpolterte und immer rief: Morgenland und Abendland, das passt doch nicht zusammen. »Ich war nicht gut in Deutsch damals. Aber irgendwann hab ich gemerkt, dass er mit dem Morgenland mich meinte. Und wir zwei in unserm kleinen Bett haben gekichert und gedacht: Morgenland und Abendland, das geht doch ganz wunderbar!« • |