Juli 2009 - Ausgabe 109
Geschichten & Geschichte
Goethe in Kreuzberg von Helmut Unverzagt |
Nicht alle von jenen, die schwärmerisch Goethes Gedichte zitieren, wissen, dass der Dichter auch Geheimrat war und sich gern in die Politik einmischte. Dass der Schöngeist für Herzog August als Geheimagent tätig war, ist jedoch noch umstritten AUCH UNTER den literaturwissenschaftlich ambitionierten Korinthenzählern ist die Meinung weit verbreitet, Johann Wolfgang von Goethe hätte seinen Seiden bestrumpften Fuß niemals auf Berliner Boden gesetzt. Das raue Großstadtpflaster sei ihm nicht genehm gewesen. In jüngster Zeit aber verdichten sich die Hinweise darauf, dass der Schöngeist nicht nur Berlin besucht hat, sondern auch den Sündenpfuhl vor dem Halleschen Tor aufgesucht haben soll: die Weinschenken und Vergnügungslokale am Tempelhofer Berg, dem heutigen Kreuzberg. Als gesichert gilt, dass der Dichter im Jahre 1778 der Stadt Berlin die Ehre erwies. Als Johann Wolfgang sich im Mai in Begleitung seines Dienstherren, des Herzogs Karl August von Sachsen-Weimar, für 8 Tage in Berlin aufhielt, notierte er in Stichpunkten akribisch die Stationen und Begegnungen seines Aufenthaltes. Allerdings findet der Forscher nicht den geringsten Vermerk über dessen nächtlichen Abstecher in die Gegend des heutigen Kreuzbergs. Die möglichen Gründe für die Verschwiegenheit des sonst so beredten und detailgetreuen Dichters sind so einleuchtend wie spektakulär: Goethe war in geheimer Mission und sozusagen »undercover« unterwegs! Dass die »seriöse« Goethe-Forschung diesen Besuch einer anrüchigen Gegend nicht zum Gegenstand ihrer Untersuchungen gemacht hat, könnte dem Respekt vor der schlicht unsterblichen Größe des Dichters anzulasten sein. Die Enttarnung des deutschen Vorzeigedichters als Spitzel wäre auch heute noch ein Skandal. Dass die Kreuzberger Patrioten bisher wenig Interesse daran zeigten, sich mit dem Besuch des hohen Herren zu brüsten, liegt auf der Hand: Der Diener des damaligen Establishments passt nicht ins Kreuzberger Weltbild. Der neunundzwanzigjährige Goethe nämlich war längst den Verlockungen von Macht, Ruhm und Reichtum hoffnungslos erlegen. Der Herzog hatte ihn gegen den Widerstand seiner Konkurrenten zum Mitglied seines Rates gemacht. Mit den darauf folgenden Ernennungen zum Wirtschafts-, Kriegs- und Finanzminister nahm die politische Karriere des durch seinen »Werther« und den in Berlin uraufgeführten »Götz« längst berühmten Dichters ihren unaufhaltsamen Lauf. Somit könnte der Besuch der beiden incognito reisenden Herren in Berlin womöglich hochbrisante Hintergründe gehabt haben: Man nutzte die Abwesenheit des preußischen Monarchen, der seine Truppen inspizieren musste, um etwas über dessen Kriegspläne gegen Österreich zu erfahren. Augusts Herzogtum lag just zwischen den Fronten, der Regent musste sich allmählich entscheiden, auf welche Seite er sich schlagen sollte. Der Legationsrat Goethe wiederum gehörte zu den wichtigsten Beratern Karl Augusts. »Der Herzog frisst ihm schon aus der Hand«, soll ein Zeitgenosse wenig respektvoll bemerkt haben. Wem sonst hätte der Herzog den Auftrag erteilen sollen, sich in der Umgebung der Weinberge südlich der Stadt etwas umzuhorchen, wenn nicht seinem engsten Vertrauten von Goethe? In den Weinbergen vor der Stadt fand sich an den Wochenenden nicht selten eine bunte Mischung aus fahrendem Volk, Deserteuren, politischen Flüchtlingen und Soldaten ein, um, vom Genuss des Tempelhofer Weines angeregt, politische Reden zu halten und zu diskutieren. In den Weinbergen fühlte man sich sicherer als innerhalb der Stadtmauern. Der »Dustere Keller«, eine kleine Weinschenke am Tempelhofer Berg, wurde wenige Jahre später gar zum geheimen Treffpunkt der Urväter des Deutschen Bundes, unter ihnen so wackere »Revolutionäre« wie Turnvater Jahn, Arndt und Friesen. Da jegliche Aufzeichnungen über den Erfolg von Johann Wolfgangs Erkundungen fehlen, ist die Forschung auf Vermutungen und Gerüchte angewiesen. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass der Spitzel an einem warmen Maiabend unbemerkt sein Quartier, das »Hotel de la Russie« Unter den Linden, verließ und sich mit einer gewöhnlichen Droschke auf den Weg ins heutige Kreuzberg machte. Dort mischte er sich unter die Spaziergänger und versuchte, wie einer jener jungen Herren zu wirken, die nach Mädchen Ausschau hielten. Seine ausgeprägte Vorliebe für Frauen und Wein dürfte einiges zur Glaubwürdigkeit des Fremden beigetragen haben. Während der Herr auf der Suche nach dem »Ewig Weiblichen« zu sein schien, belauschte er die politischen Gespräche betrunkener Hitzköpfe am Nebentisch, und als die Gäste zu späterer Stunde einige Lieder anstimmten, schrieb Goethe: »Ein garstig Lied! Pfui, ein politisch Lied!« Zu diesem Faustschen Vers dürfte ihn kaum das brave Weimar inspiriert haben. Der saure Tropfen von den Tempelhofer Bergen könnte auch für jenen kleinen Kalauer verantwortlich sein, der noch heute unter Zechern kursiert: »Mit diesem Trank im Leibe, siehst du Helenen in jedem Weibe«. Als die Zecher aus dem Weinkeller ob der vielen Fragen des Gastes misstrauisch wurden und an Goethes Tisch traten, rief er: »Ihr naht Euch wieder, schwankende Gestalten!« – und verbaute auch diesen Spruch in sein dichterisches Werk. Wie wenig von Goethe die Berliner gefielen, konnte sein Freund und Dichter Eckermann bezeugen, dem gegenüber sich Goethe wenig schmeichelhaft äußerte: »Es lebt dort ein so verwegener Menschenschlag ......dass man Haare auf den Zähnen haben und mitunter etwas grob sein muss, um sich über Wasser zu halten«. Der arme Goethe hätte sich die Begegnung mit den unangenehmen Gesellen sparen können. Augusts Spionageaktion war völlig unnötig, denn das Herzogtum Sachsen-Weimar blieb von den kriegerischen Auseinandersetzungen unberührt. Es starben zwar Zehntausende von Soldaten an der Ruhr, aber die Truppen waren überwiegend damit beschäftigt, bei den Bauern Verpflegung zu rekrutieren und die Kartoffelfelder umzuwühlen. Nach nur 10 Monaten wurde Frieden geschlossen, und alles war wie zuvor. • |