Februar 2009 - Ausgabe 104
Mein liebster Feind
6. Brief von Karl Hermann und Doktor Seltsam |
KARL MARX! Eine Stimme, die »Herr Hermann überhaupt nicht mag«, schreibt der Doktor. Was so nicht stimmt, denn man kann Marx durchaus mögen, ohne ihn als ständigen Belastungszeugen zu bemühen: für jede Schweinerei des Kapitalismus und sei es auch nur die Frage, ob man die RAF als Modelabel vermarkten darf. Was weiß denn Marx von den Problemen unserer Zeit? Weiß er, wie man Milchschaum macht, einen Manhattan mixt oder Hauskredite in kleine Scheibchen schneidet und als komplexe Asset Backed Securities serviert? Der »tendenzielle Fall der Profitrate« ist als Theorieansatz etwa so präzise wie ein Schlachterbeil in der Chirurgie. Was Herr Seltsam uns da auftischt, ist eine spätromantische Reminiszenz. Er beschwört den revolutionären Geist der Mai-Demos und weiß doch selbst, dass sich die Chose längst totgelaufen hat. Ich gönne ihm ja sein kleines Lagerfeuerchen, aber die Mai-Festspiele sind inzwischen nicht mehr als ein folkloristischer Heimatabend, bei dem sich die Teilnehmer in gewohnt ritualisierter Tanzaufstellung ihrer gegenseitigen Abneigung versichern. Was mal als echter Protest begann, ist heute so relevant wie das Jahrestreffen der sudetendeutschen Landsmannschaften. Inzwischen streiten sich Hausbesetzer der ersten Generation mit denen der dritten – und die Polizei nimmt das Protokoll auf. Das ist traurig und komisch zugleich: Denn während all die Jahre der Prolet in Ost und West das Spektakel kopfschüttelnd vom Fernsehsessel aus verfolgte – der brennende Golf GTI hätte ja auch seiner sein können – wäre er heute für ein paar politische Antworten dankbar. Wo sind plötzlich seine Lehmann-Anteile geblieben? Doch die Linke schweigt oder hat außer den üblichen Worthülsen nichts zu bieten. Tief im Innern dämmert die Erkenntnis, dass es für den derzeitigen Kollaps der Finanzwirtschaft keine simple Lösung gibt, außer man findet sich mit den Bedingungen einer Tauschgesellschaft wie im ehemaligen Osten ab. – Gib mir Deinen Schrebergarten und ich renovier Dir Deine Wohnung. Doch danach sieht es gerade in Kreuzberg nicht aus. Die Cafés und Bars sind voll wie immer, die Gespräche drehen sich um den nächsten Urlaub, oder wo es Karten für die Berlinale gibt. Von Apokalypse keine Spur! Stell Dir vor, es ist Krise – und keiner geht hin! Nicht mal zur Demo! Es ist wie beim Tsunami in Thailand. Die Leute stehen am Strand und wundern sich, dass das Wasser weg ist. Die Welle, die sich hinter dem Horizont aufbaut, sehen sie nicht. Aber sie kommt und sie wird ziemlich hoch sein. Und wenn sie durch die Bergmannstraße fegt, wird sie nicht nur die Coffees to go und die Prada-Meinhof-Repliken wegspülen, sondern auch ein wenig von dem ideologischen Gerümpel der vergangenen Jahre. Danach wird der Blick wieder frei. Hoffentlich! • Karl Hermann |