Juni 2008 - Ausgabe 98
Die Literatur
Donnerstag von Helmut Weinmeister |
Sie hob den Kopf, schlug langsam, wie von Ferne, die Augen auf und öffnete ihre roten, vollen Lippen, da brach hinter ihnen dieses Brüllen los. Georg drehte sich um, aber kein feindliches Boot näherte sich, der See lag still und friedlich. Doch das bedrohliche Grollen wuchs an, und kaum hatte Georg realisiert, daß es von unten, aus der dunklen, abgründigen Tiefe des Gewässers kam, da schien es bereits unmittelbar unter dem Bootsboden zu sein. Juttas Gesicht war von Schreck verzerrt, nicht die Spur eines Lächelns war mehr um ihren lieblichen Mund. So schnell konnte Liebe erlöschen! Georg wußte nicht, was er mehr bedauern sollte, dieses rasche Ende der Zuneigung oder den nahenden Untergang schlechthin, der unmittelbar bevorstand, daran zweifelte er nicht, das Ungeheuer würde ihr winziges Boot aus dem Wasser schleudern und Jutta und Georg samt dem gerade erwachten Liebesleben ein für alle Mal in den schlammigen Grund des Teichs hinabziehen. Fürchte Dich nicht, rief Georg, während sich in seiner Brust ein Aufschrei der Angst zusammenballte, und erst als der Kahn endlich kenterte und er in den dunklen See tauchte, als er, schon unter Wasser gezogen von Wirbeln und Strudeln, strampelte und grätschte, um noch einmal zum Licht emporzutauchen, erst da erwachte er schweißgebadet in seinem aufgewühlten Bett. Das Bellen des Untiers kam aus der Wohnung unter ihm. Er hätte nie nach Kreuzberg ziehen sollen. Kreuzberg war ein Kreuz. Die Hölle. Es bestand kein Zweifel, es war Panteliz, der seit Minuten hustete und röchelte. Georg war dem Mann nie begegnet, er kannte nur das Klingelschild, aber er sah deutlich die dürre, gelbliche Gestalt, die sich einen Meter unter ihm durch die Räume bewegte, eine elende Figur mit eingedrücktem Brustkorb, die sich krümmte und beugte, sich am Türpfosten festhielt, und nur die dünne Membran seines Holzfußbodens verhinderte, daß die beiden Leben vollkommen fusionierten. Georg empfand zuerst Abscheu und knapp darauf Mitleid mit dem kranken Mann, selbst das Ersterben des Lächelns auf Juttas Gesicht verzieh er ihm. Schließlich würde sein Traum bald Wirklichkeit werden, draußen wartete ein strahlender Tag, um drei würde er sie wiedersehen, Jutta, die Kommilitonin mit dem roten Mund, und mit ihr den Teich berudern. Schon hörte er den Husten nicht mehr, schon trieb er wieder träumend auf den Wellen, als er den Gestank wahrnahm, der plötzlich unter seinem Bett aufstieg. Schwaden kalten Zigarettenrauches drangen durch die Ritzen seines Holzfußbodens in sein frisch gestrichenes Zimmer, augenblicklich sah Georg die vergilbten Raucherabteile der Deutschen Bundesbahn vor sich, mit faltendurchzogenen Gesichtern in verknitterten Anzügen. Georg sprang aus dem Bett und öffnete das Fenster, aber jetzt drangen ganze Rauchschwaden herein, Ausdünstungen überfüllter Aschenbecher auf dem Tisch vor dem Fernseher und der Gestank billigen Rasierwassers: Panteliz hatte offensichtlich ebenfalls das Fenster geöffnet, um das Sauerstoffdefizit in seiner Behausung auszugleichen und die Schadstoffemission im Hinterhof zu erhöhen. Georg saß aufrecht in seinem Bett und lauschte. Dann fiel eine Tür. Georg atmete auf. Doch es war die Stille vor dem Sturm, der plötzlich aus den übelriechenden Eingeweiden des Herrn Panteliz hervorbrach, eine Geburt von Schleim, giftigen Gasen und gärendem Weißkohl mit Speck. Georg stürzte in die Küche, riß auch dort das Fenster auf, aber von allen Wänden des Hofes schallte das Würgen, überall war es zu hören, der gesamte Hof war erfüllt vom Würgen und Erbrechen dieser Kreatur. Der vermeintliche Schwindsüchtige, mußte Georg einsehen, war sein nächster Nachbar. Entnommen aus »Donnerstag«, Helmut Weinmeister, Außenseiterverlag, 2004 |