Kreuzberger Chronik
Juni 2008 - Ausgabe 98

Der Kommentar

Mut zur Lücke


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von Eckhard Siepmann

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Die große Stadt Berlin mit ihren riesigen Wohnquartieren aus Gründerzeit und Weimarer Republik wurde im Zweiten Weltkrieg massiv zerstört. Bis in die 80er, 90er Jahre des letzten Jahrhunderts klafften überall zwischen den sanierten, wieder aufgebauten Häusern Lücken. Baulücken, in denen sich ein Wildwuchs breitmachte, der in der Folge wesentlich zur Identität des Nachkriegsberlin beitrug.

Mitunter wurden diese Lücken von Minderheiten der Berliner Bevölkerung entdeckt. Wagenburgen entstanden, alte Anatolier bauten Gemüse an, unbewachte Abenteuerspielplätze entwickelten sich, und in der Zeit nach dem Mauerfall entdeckten Raver und andere alternative Kulturinteressierte etliche Areale am ehemaligen Mauerstreifen als Orte für ihre Feste. Viele Grundstücke blieben aber auch einfach leer, Pionierpflanzen eroberten sich Lebensraum, Kinder sprangen herum und bauten sich ihre Hütten neben Kaninchen- und Fuchshöhlen.

Wer vor 30 Jahren etwa aus dem saturierten Hessen nach Kreuzberg zog, empfand solche Leer-und Lebensräume auch als eine geschichtsträchtige Bereicherung. Er sah die natürlichen Mahnmale der jüngsten Geschichte und der wilden Zerstörungswut im 2. Weltkrieg. Solche scheinbar ungenutzten Lücken in der Baulandschaft gab es in Westdeutschland nicht mehr, alles war längst wieder zugebaut, die Brachen hatten Platz gemacht für eine architektonisch meist gruselige, aber kommerziell erfolgreiche Neunutzung. In Berlin überlebten die kleinen Atempausen inmitten einer unermüdlichen großstädtischen Betriebsamkeit. In ihrer Leere waren diese freien Räume Balsam für das Denken und Sehen.

Spätestens seit dem Mauerfall aber zieht es vermehrt Investoren in diese Freiräume, die anfangs jedoch noch so zahlreich waren, daß die allmähliche Schließung der Lücken zuerst wenig auffiel. Seit ein paar Jahren aber wird es eng. Große Brachen wie an der Stresemannstraße verschwinden, in den 50ern gebaute Improvisorien werden abgerissen und Hotels, Gewerbe-und Shopping-Center entstehen. Aus der wild überwucherten Reichsbahnbrache am Gleisdreieck wird ein gepflegter Park und Sportflächen und Randbebauung. Auf der versteckten Freifläche hinter dem Gasometer in der Fichtestraße entsteht ein Luxus-Lofthouse. Brachliegende Gelände am Spreeufer mit handgebastelten, tollen Bars werden in domestizierte Spaziermeilen und Mediaspreebauplätze umgewidmet. Alles wird sauber und ordentlich, alles wird in die öffentliche Hand genommen und durchorganisiert. Auch eine der schönsten aller Lücken, der Biergarten mit seinen alten Kastanien im Hinterhof der alten Reichelt-Filiale in der Bergmannstraße, ist gerade zum Shopping-und »Gesundheitszentrum« geworden.

Wo bleibt bei all der Bautätigkeit noch Platz für den Wildwuchs, wo sind die Lücken zur Improvisation? Wo sind die Freiräume, die Kreuzberg berühmt gemacht haben? Wo ist noch Platz für dieses Lebensgefühl aus persönlicher Freiheit, gesellschaftlichem Übermut und utopischen Ideen? Alles schon Vergangenheit? Wird die Utopie, die Kreativität, die Weiterentwicklung nun endgültig dem kommerziellen Mainstream geopfert? In der Londoner U-Bahn gibt es die schönen Hinweise: Mind the Gap! Achtet auf die Lücke! Lassen wir uns die Lücken nicht nehmen; das Leben selbst ist ein Improvisorium und reicher als das, was uns die Investoren und Politiker als Lebens- und Shoppingraum anbieten!

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