Juni 2008 - Ausgabe 98
Die Geschichte
Zehn Jahre von Achim Fried |
Zehn Jahre sind keine lange Zeit. Aber auch in zehn Jahren kommen und gehen viele. Auch in Kreuzberg. Menschen, Häuser, Kneipen, Lokale, Geschäfte, – alle kommen und gehen. Auch in der Bergmannstraße, der Hauptschlagader des ehemaligen Zustellbezirks 61. Aber diejenigen, die weggingen in den letzten zehn Jahren, die gingen nicht, weil es ihnen in der Bergmannstraße nicht mehr gefiel. Die räumten ihre Wohnungen, Kneipen und Läden wieder aus, weil sie die Miete nicht mehr bezahlen konnten. Die Nachfolger dagegen zahlten. Denn die Nachfolger haben nichts mehr mit jenen Pionieren zu tun, die vor dreißig Jahren in die Straße zogen, weil ihnen dieses Gemisch aus Geschäften und Cafés und Bewohnern, dieser Hauch von Boheme, diese Symbiose von Lässigkeit und Betriebsamkeit gefiel. Sie waren es, die die Straße zu dem machten, was sie heute ist. Ihre Nachfolger aber kamen nur noch, weil der Name Bergmannstraße nach Geld zu riechen begann und Gewinn versprach. Jemand, der vor zehn Jahren das Viertel verlassen hat, um in Paris oder auf den Kanaren sein Glück zu suchen, und der zurückkommt und durch die Straßen läuft, wird staunen. Vieles hat sich in der kurzen Zeit verändert. Die Yorckbrücken, das rostige Tor zu Kreuzberg, stehen zwar noch immer, und auch die »Villa Kreuzberg« ist noch da. Aber sie hat ein buntes Ziegeldach bekommen, und wo einst ein Mädchenzentrum war, mit Proberaum für Bands im Keller und Nähtischen im ersten Stock, stehen jetzt die akkurat gedeckten Tische eines feinen Restaurants. Der Heimkehrer kann sich noch an den Streit um das Haus erinnern, und daß die Politik versprach, keine kommerzielle Nutzung des Gebäudes zuzulassen. Auch oben, über dem Wasserfall, steht das Denkmal noch. Aber dahinter, wo die alte Schultheiss-Brauerei mit ihren rostroten Backsteinbauten lag und an den Aufbruch erinnerte, ist ein neuer Stadtteil entstanden, mit Tiefgaragen, Eigenheimchen und englischem Rasen. Abgeschottet vom Rest Kreuzbergs durch hohe Zäune, Mauern und Einfahrten mit Pförtnern. Sogar am Chamissoplatz hat sich vieles verändert. Die bröckligen Fassaden sind frisch renoviert, einige Häuser sind so vornehm geworden, daß der ehemalige Mieter sich seltsam fremd fühlt. Vergebens sucht er auf den Messing-Klingelschildern nach den Namen von Freunden. Weiter unten, in der Bergmann, da, wo sich einst im Supermarkt von Reichelt der halbe Kiez traf, steht nun das Ärztehaus. Reichelt ist zu Kaisers geworden, eine glänzende Supermarktfiliale, Obst und Gemüse leuchten wie gemalt. Verloren, niedergerissen die Habelsche Trinkhalle mit ihren historischen Stuckarbeiten, gefällt die alten Kastanien im Hinterhof. Hätte man nicht die Trinkhalle retten, als antikes Café in das Betongebäude integrieren können? Die alte Markthalle hat der Ex-Kreuzberger fast nicht wiedererkannt mit den vielen Tischen und Stühlen davor und den Menschen, die in der Sonne sitzen und das Leben genießen. Das sieht wie Urlaub aus, denkt er, und bestellt einen Kaffee. Es ist wirklich ein bißchen wie Urlaub, denn Urlaub ist teuer. Früher hat er am Wurststand mit den Berliner Spezialitäten in der Halle gestanden, da kostete der Kaffee 1,20, die Wurst für 1,60! Mark! Jetzt zahlt keiner mehr mit Münzen, jetzt zahlen alle mit Scheinen. Drinnen, in der Halle, kennt er einige der Händler noch. Der Tabakhändler ist noch da, der Schlüsseldienst, die Bäckerei Mehlwurm, Yalda mit seinen Nüssen und seinen getrockneten Früchten, der Grieche, der Spanier. Andere sind nicht mehr da: Der Schreibwarenladen, der Stand mit den Süßigkeiten für die Kinder, und Bancarella, wo er immer Kaffee trank und Ricotta kaufte. Einen wunderbaren Ricotta, den besten in ganz Berlin. Immerhin, das Atlantic ist noch da, das Turandot, das Milagro, und der plappernde Typ vom Grande Gyros. Aber unten, an der Yorckstraße, hat das Enzian geschlossen, einst die legendäre Nulpe, ein Säufer- und Künstlertreff, in dem später der »Wahre Heino« hinter dem Tresen stand und politische Parteien zu gründen versuchte. Der Großbeerenkeller ist auch nicht mehr da, und das Publique, das sich im Schatten der Yorckbrücken verbarg, dieser Geheimtip für all jene, die gut essen, aber nicht gut zahlen konnten, das ist nun endgültig verschwunden. Hungrig kehrt er um, geht noch einmal zurück, vorbei am Stadtteilbüro, in dem keine Karin Vogel mehr sitzt, weil Karin Vogel, auch so ein Pionier, eine Grüne der ersten Stunde, im April gestorben ist. Zurück in die Heimstraße, zwischen Touristen hindurch, die herumstehen, herumsitzen, überall kreuz und quer und ziellos herumlaufen. Er geht die Heimstraße hinauf, wo Slobos sein kleines Lokal hatte. Slobos, der nie von einem Restaurant träumte, das Geld wie Heu abwarf. Sondern der von einem kleinen Wohnzimmer träumte, in dem er für einige wenige auserlesene Gäste kochen konnte, die sich schon Wochen vorher angemeldet hatten und einen Maibock, eine Gams oder einen Wildschweinrücken bestellt hatten. Slobos, einer der so nach Kreuzberg paßte, schwul, mit eigenem Kopf und Pioniergeist. Mit weißen Tischdecken im Revoluzzerkiez, und mit seiner unsterblichen Liebe zum Kochen. Slobos, das kleine Lokal, in dem sich einst einmal eine Runde von Kreuzbergern traf und über eine Stadtteilzeitung nachdachte. Aber das Slobos ist auch schon weg. |