Kreuzberger Chronik
Juli 2008 - Ausgabe 99

Herr D.

Herr D. hört Geschichten


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von Hans W. Korfmann

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Herr D. hatte Urlaub, aber er blieb in Berlin. Wobei er sich allerdings benahm wie ein Urlauber: er ging ins Theater, ins Museum, fuhr ins Umland. War das Wetter unbeständig, blieb er in der Nähe und spazierte durch die Bergmannstraße, setzte sich ins Café, las Zeitung. Und wenn ihn doch einmal die Sehnsucht nach dem Süden überkam, dann ging er zum Griechen in die Markthalle. Oder zur Enoteca Bacco. Nicht um Wein zu trinken, sondern um Kuchen zu essen. Rhabarberkuchen, den ein Konditor in seiner häuslichen Küche herstellte. Ganz Kreuzberg wurde von arbeitslosen Konditoren oder Hobbybäckern beliefert.

Manchmal kam der Wirt an den Tisch, er war nie um eine Geschichte verlegen, und wenn er sich zu den Gästen beugte, war die Enoteka der südlichste Punkt Berlins. Fast jede seiner Geschichten endete mit einem schallenden Lachen, das es sonst nur in Italien gibt. Kürzlich kam ein älteres Pärchen herein. Zwischen sich in einer Tragetasche saß ein kleiner Hund. Der Dackel wurde vorsichtig auf einen Stuhl gesetzt, wo er herzhaft gähnte. Der Wirt unterbrach seine Erzählung, brachte dem Pärchen Kaffee und dem Hund eine schale Wasser. Als er zurück kam, sagte er: »Dieser kleine Hund hat den Streitwert eines prämierten Hengstes.« Und dann erzählte der Wirt die Geschichte des Dackels.

Begonnen hatte es eines Abends. Es klingelte an der Haustür des Rentnerpaars. Kaum hatten sie geöffnet, stürmte ein Mann an ihnen vorbei ins Wohnzimmer, schnappte sich den Hund und verschwand wieder. Das erregte Rentnerpaar rief bei der Polizei an und erzählte, ein Einbrecher sei gewaltsam in die Wohnung eingedrungen und habe den Dackel gestohlen. »Schon gut...«, sagte der Polizist und legte wieder auf.

Doch der Hund war tatsächlich entführt worden. Schon lange nämlich stritt das Ehepaar um den Dackel. Es hatte ihn eines Tages von einer alten Dame zur Pflege erhalten, die für unbestimmte Zeit nach Amerika verreisen wollte. Als sie überraschend zurück kam und das Tier wieder zu sich nehmen wollte, sagte das Paar wie aus einem Mund: »Den geben wir nicht mehr her! Der gehört jetzt uns.« Da heuerte die Dame den Entführer an.

»Inzwischen ist die Sache in der zweiten Instanz«, sagte der Wirt und schlug mit der Faust auf den Tisch, dass der müde Dackel den Kopf hob. Sogar der Staatsanwalt hatte sich eingeschaltet und den Anwalt des Rentnerpaars angerufen. Man solle in einen Vergleich einlenken, schließlich handele es sich bei der Klägerin um eine Jüdin. Doch auch der Anwalt der vermeintlichen Angeklagten war nicht auf den Mund gefallen und sagte: »Meine Mandanten sind auch Juden. Noch dazu gleich zwei!«

Der Dackel gähnte, und einen Moment lang sah es aus, als überlege er, warum eigentlich niemand merkte, dass es sich hier nur um einen Dackel und nicht um die deutsche Geschichte handelte. •


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