Dez. 2008/Jan. 2009 - Ausgabe 103
Mein liebster Feind
5. Brief von Karl Hermann und Doktor Seltsam |
»WÄHREND DIE Bergmannstraße mit neuen Coffee-Shops und Bars einer szenetypischen Gentrifizierung entgegen segelt, träumen die Alt68er noch vom revolutionären Kreuzberg«, schreibt Karl Hermann und dass die Linken nur eine Modeerscheinung und keine ernsthafte Widerstandsbewegung waren. Dem muss entgegen gehalten werden, dass Kreuzberg immer eine politische Rolle spielte. Seit am 1.Mai 1987 Bolle am Görlitzer Bahnhof in Flammen aufging, galt Kreuzberg als staatsfeindlich und unregierbar. Tatsächlich – und nicht nur in der Wahrnehmung linker Nostalgiker – bekam die CDU bei den Wahlen in Kreuzberg zum Teil unter 5 Prozent. Tatsächlich bekam mit dem ehemaligen RAF-Anwalt Hans-Christian Ströbele erstmals ein grüner Linker ein Direktmandat für den Bundestag. Das sind Fakten, keine verträumten Verblendungen. Seit 1987 versuchen deshalb alljährlich ein paar tausend Menschen auf der revolutionären Maidemo, die Erinnerung an die Revolte wach zu halten. Dass die Zeit des Widerstandes weder ein Spiel ist noch der Vergangenheit angehört, beweisen die bis heute omnipräsente Bereitschaftspolizei wie auch die Stadtteilregierungen, die versuchen, die Mairandale in einem Meer von Bier und Musik zu ertränken. Natürlich ist es merkwürdig, wenn Reisebusse – wie Herr Herrmann ja richtig bemerkt – »Gruseltouren« nach Kreuzberg anbieten und durch die winzige Schenkendorfstraße fahren, um Touristen das »Volksgefängnis von Peter Lorenz« zu zeigen. Doch ausgebeutet wird alles, was Geld verspricht. Der Tourismus macht weder vor Che Guevara noch vor Kreuzberg Halt. Über die Haltung der Revolutionäre allerdings sagt das nichts aus. Kreuzberg war immer Trendsetter, sogar für die internationale Modeszene. Die zerrissenen Punk-und Streetfighter-Klamotten, die man zuerst auf dem Oranienboulevard sah, fanden sich drei Jahre später in den Schaufenstern des KaDeWe wieder. Aber sie waren ursprünglich die Arbeitsklamotten der Widerständler. Wo immer etwas erfunden wird, steht ein Profiteur daneben. RAF und 2. Juni schienen für den Markt ungeeignet. Nun gibt es Filme, in denen Baader im Kugelhagel als Westernheld stirbt. Modelabel werben als »Prada-Meinhof« mit nachgestellten Leichenfotos aus Stammheim, der Maler Richter bekommt Höchstpreise für seine verwaschenen Porträts von Ensslin und Raspe. Und auf der Oranienstraße gibt es eine Galerie, wo die Gruppe »endart« geschmacklose Objekte ausstellt, die dem Kunstmarkt quer im Halse stecken bleiben sollten, Schleyer am Kreuz mit Erektion! Es gibt nichts, das sich nicht vermarkten ließe. Oder, um es mit jener Stimme zu sagen, die Herr Herrmann überhaupt nicht mag: »Der Bourgeois verkauft noch den Strick, an dem er erhängt wird« (Karl Marx). • Dr. Seltsam |