April 2008 - Ausgabe 96
Die Geschichte
Ilse Scheer und die Berliner Theatermanufaktur von Horst Zimmermann |
Genie und Wahnsinn!«, seufzt die Hausfrau am Herd aus ganzer Seele, nachdem ihr Lied verklungen ist, um im selben Atemzug ihren Untermieter harsch anzufahren: »Wollns‘ ahn Tee?« Die Worte aus dem Stück »Kaiser und Küchenlieder« klingen lange nach. Typisch für den Humor und die Kunst der Schauspielerin, die ein Stück Kreuzberger Theatergeschichte schrieb: Ilse Scheer. Begonnen hatte die Geschichte der Theatermanufaktur in der Hermannstraße. In einem engen Fabrikhof hauste die Gruppe zwischen selbstgebauten Requisiten und Spaghetti in einfachsten Verhältnissen. Für alle Mitglieder der Gruppe gab es gleichen Lohn, ein Prinzip, das lange Zeit aufrechterhalten wurde. Eine Art Schauspielerkommune, mit getrennten Schlafzimmern, aber gemeinsamen Vorstellungen auf der Bühne. Und die Bühne, die war überall: auf der Straße, im Gemeinschaftshaus, in der Turnhalle, der Wirtschaft und im Theater. Quer durch die Republik reiste das Ensemble um Stücke aufzuführen, die geprägt waren von der commedia dell’arte und vom politischen Straßentheater der 20er Jahre, das in den 70ern sein Comeback hatte. Bevor Ilse Scheer mit Otto Zonschitz im Jahr 1970 die Berliner Theatermanufaktur gründete, war sie in Wien mit den Komödianten unterwegs, wo jene berühmten Kaiserund Küchenlieder uraufgeführt wurden, die bis heute noch Vielen imOhr klingen. In Berlin war es vor allem das Stück »1848« von Zonschitz, das die Theatermanufaktur bekannt machte. Auf dem vielzitierten Bolzplatz am Chamissoplatz spielte man das Stück vor einem begeisterten Publikum. Besonders jene Szene, in der die Scheer als Zeitungsverkäuferin – von einem Polizisten (s. Foto) argwöhnisch beobachtet – Flugblätter verteilt, stieß bei den Kreuzbergern auf umfassendes Verständnis. Als der Beamte in ein Gespräch verwickelt wird und schließlich abgeht, weil die Ordnung wiederhergestellt zu sein scheint, klebt ein Flugblatt auf seinem Rücken. Das Publikum applaudierte, aber weil es zu regnen begann, drohten die Requisiten aufzuweichen. Man wollte abbrechen, doch die Menge skandierte »weitermachen, weitermachen!« Und so spielten sie eben in nassen Kostümen weiter: Ilse Scheer und ihre Gruppe. Es war tatsächlich »ihre« Gruppe – trotz des Kollektivanspruchs. Denn Ilse Scheer war das Herz der Manufaktur. Sogar der Kopf des Ensembles, Otto Zonschitz, lernte bei ihr das Schauspielhandwerk. Ebenso wie der musikalische Leiter Rudolf Stodola und im Laufe der Zeit noch viele andere Mitglieder der Manufaktur. 1981 dann bezog die Theatermanufaktur die Spielstätte am Halleschen Ufer, die zuvor durch die Schaubühne bespielt wurde. Aus der fahrenden Schauspieltruppe wurde allmählich ein Theaterbetrieb, in dem Stücke von Aristophanes, Brecht, Nestroy, Schwarz, Zonschitz und auch von Ilse Scheer inszeniert wurden. Mit den Stücken »1848« und »Johann Faustus« von Hanns Eisler gastierte die Manufaktur aus Kreuzberg darüber hinaus in allen größeren Städten der Bundesrepublik und unternahm Tourneen durch fast ganz Europa. Sogar bis in die USA und bis nach Kuba reiste die Schauspieltruppe. Doch Ilse Scheer überzeugte nicht nur als Schauspielerin, sondern auch – und nicht zuletzt – als Sängerin und Interpretin Brecht’scher So wurden kleine Leute durch das Spiel der Scheer ganz groß: In der »Macht des Schicksals« – von Scheer selbst nach der gleichnamigen VerdiOper – spielte sie eine Garderobiere, die alles mitlebt, was ihre Diva auf der Bühne erleidet, während sie davon träumt, selbst auf der Bühne zu stehen. Und in jedem Stück der Scheer war etwas vom Witz der »Kaiserund Küchenlieder« herauszuhören. Dieses Theater machte Spaß und wurde verständlich, sobald Ilse Scheer auf der Bühne stand. Entsprechenden Beifall erhielt die Schauspielerin in Berlin, sobald sie auch nur die Bühne betrat. Doch trotz des Erfolges blieb Ilse Scheer stets bescheiden. Sie war sich nie zu schade, den Besen in die Hand zu nehmen und vor einer Premiere den Zuschauerraum zu fegen. Sie war eben eine Volksschauspielerin und eine Komödiantin im besten Sinn. Privat? Eine private Scheer gab es nur selten. Vielleicht kurz nach einer Premiere bei einem Glas Wein. Und dann wurde über den Verlauf der Vorstellung gesprochen. Am nächsten Tag war sie schon wieder bei einem neuen Projekt, kümmerte sich um verknitterte Kostüme oder ärgerte sich über die kritische Presse – wie nach der Inszenierung der »Mutter« im Künstlerhaus Bethanien 1983. Das Stück, das schon bei seiner Uraufführung 1931 unter der Regie des Autors, ebenso wie bei der Wiederaufnahme in den Spielplan der DDR oder bei Peter Steins Inszenierung an der Schaubühne in den 70ern den Kritikern mißfiel, brachte auch Ilse Scheer kein Glück. Es fiel durch, und mit Brechts »Mutter« hatte auch die Manufaktur das Wohlwollen verspielt. Bis 1991 leitete Ilse Scheer mit Otto Zonschitz die Manufaktur im Haus am Halleschen Ufer. Nach der Wende aber wurde das politische Theater unisono durch die Berliner Presse und den Senat für verstaubt und die Akteure für »ewig gestrig« erklärt. Die einst hochgelobte Gruppe flog aus dem Haus. Die Scheer arbeitete weiter und veranstaltete mit Zonschitz und mit ihrem Freund Metin Tekin Brecht-Abende und komödiantische Programme. Die meisten davon in Wien, stets begleitet von ihrem musikalischen Partner, Rudolf Stodola, der als Komponist und Arrangeur zahlreicher Bühnenmusiken außerdem ihr ständiger Begleiter auf dem Klavier, dem Akkordeon und der Gitarre war. Und immer wieder sang die Scheer ihre Küchenlieder, die weit über tausendmal aufgeführt wurden. Auf den Bühnen Berlins aber sah man sie nach dem Verlust des Hauses am Halleschen Ufer nie wieder. Ilse Scheer starb – wie zwei Jahre zuvor Otto Zonschitz – nach langer Krankheit im Alter von 70 Jahren am 17. April letzten Jahres in ihrer Wahlheimat Kreuzberg. Das Archiv der Theatermanufaktur wurde durch das Österreichische Theatermuseum Wien übernommen. Horst Zimmermann ' |