Oktober 2007 - Ausgabe 91
Die Geschäfte
Waagen in der Oranienstraße von Peter Unsold |
Noch sind sie in guter Erinnerung, und in den Puppenstuben sind ihre kleinen Imitationen noch heute zu Hause: die Waagen, die einmal so gewichtig und groß auf den Theken jener Läden thronten, die Wurst, Käse, Butter, und noch früher einmal Mehl, Erbsen und Linsen grammweise verkauften. Die schönen, Vförmigen Anzeigen, auf denen der Zeiger noch einen Moment lang hin und her schwankte, bis er sich entschied und die Frau mit der blonden Lockenwicklerfrisur eine Scheibe vom kleinen Salamistapel wieder herunternahm. Anschließend las sie auf dem komplizierten, weil aus hunderten von Zahlen bestehenden Zifferblatt den exakten Preis ab, den der Zeiger auf der Skala anzeigte. Und während die Kundin nach dem Geld im Portemonnaie kramte, warf die Verkäuferin wieder einen skeptischen Blick in den kleinen Spiegel, der in der Waage integriert war, damit die Frau ihre Frisur kontrollieren und notfalls ein bißchen zurechtzupfen konnte. Solche Waagen stehen heute nur noch selten in den Geschäften, die Skalen mit ihren Preisen bis zu 5 Mark pro Kilo Ware sind auch im Zeitalter des Euro längst schon veraltet. Das Kilo Käse oder Salami kostet mehr als »5«, und deshalb finden sich die handwerklichen Schmuckstücke eher in den Museen wieder. Zwischen Oranienplatz und Moritzplatz aber stehen sie noch, in allen Formen und Größen, cremefarbene, rote, silberne, reichverzierte und praktischunverschnörkelte, ganz wie in alten Zeiten. Dann aber klingelt das Telefon des Herrn Nießler, eine Frau ist am Apparat, deren Kassenwaage nicht funktioniert. Natürlich handelt es sich um eine elektronische Kasse, einen Computer sozusagen. Herr Nießler hat struppige, weißsilberne Haare, eine große Brille, ein freundliches Gesicht, aber nicht sehr viel Geduld, wenn er hört, wie die Frauen am anderen Ende der Leitung ständig irgendwelche Tasten drücken, während er die Augen schließt und sich zu konzentrieren versucht. Wie ein Softwarevertreter versucht er, den langen Weg zum Kunden mit telefonischer Beratung abzukürzen, aber am Ende sagt er: »Dann müssen Sie eben warten, bis ich vorbeikomme!« Foto: Michael Hughes
Foto: Michael Hughes
Christian Nießler, der Enkel, hatte zwar das Waagenbauen gelernt, aber nie als Waagenbauer gearbeitet. 1989 mußte auch er sich nach einer anderen Arbeit umsehen, und da fiel ihm das alte Handwerk wieder ein. Eine Firma in der Oranienstraße Nummer 49 war die letzte auf seiner langen Liste, die er anrief. Sie hatte vor einigen Jahren Laden und Werkstatt der Gebrüder Weissbart übernommen, die 1946 in einer Garage in der Nähe der Glogauer Straße begonnen hatten. Wenige Jahre später zogen die Brüder in die Oranienstraße. Aber auch, wenn alles hier Tradition hat, wenn es vorne im Schaufenster ein bißchen wie im Museum aussieht und hinten im Regal einige alte Tellerwaagen ausgestellt sind, die noch auf hölzernen Unterbauten balancieren und bereits 1890 das genaue Gewicht anzeigten: Schon in der zweiten Reihe stehen die elektronischen Kassen und Waagen der Neuzeit, kompliziert anmutende Tastaturen und unidentifizierbare Einzelteile. Auch die meisten der Kunden kommen aus der Neuzeit und haben Probleme mit dem elektronischen Innenleben der modernen Waagen, die aufs Zehntel genau wiegen und auf den Cent genau den Preis anzeigen, und die sämtliche Daten auf Wunsch auch gleich in eine Rechnung verwandeln. Doch immer wieder kommt es vor, daß ein Kohlenhändler wegen seiner Kippwaage anruft. Oder daß jemand nachfragt, ob er die Waage das ganze Jahr über draußen stehenlassen kann. Nießler rauft sich die weißen Haare: »Also, ein Meter Schnee sollte da nicht den ganzen Winter draufliegen. Eine Waage ist ein Meßinstrument. Ein Dach wäre nicht schlecht. Ihr Auto lassen Sie ja auch nicht ungeschützt im Regen stehen!« Nießler hat für vieles Verständnis, aber nicht, wenn es um Waagen geht. Da kann er »nicht genug klagen!« Das wollen die Leute einfach nicht verstehen, daß eine Waage etwas empfindliches ist. Die alte Rapido zum Beispiel, die geht bis 150 Kilogramm und stand früher in einer Schlachterei. »Aber die geht aufs Gramm genau!« Auch die klobigen Prüfgewichte, diese schweren, schwarz lackierten Eisenzylinder mit dem Henkel zum Greifen und der grob gestanzten Kilogrammzahl »werden alle zwei Jahre geeicht! Weil auch die mal anecken, und weil auch die aufs Gramm genau wiegen müssen.« Überall in der Werkstatt warten die Gewichte, bis zu 50 kg schwer, »und im Eichamt, da gibt es noch welche bis 250 Kilo! Bei den mechanischen Waagen hat sich eben in den letzten 100 Jahren nicht viel verändert.« Auf dem Eichamt auch nicht, und in der Oranienstraße ebenfalls nicht. Die Werkstatt mit ihren eisernen Schubkästen, der hölzernen Werkbank, dem Schraubenlager, dem gut sortierten Werkzeug an der Wand und dem Radio auf der Fensterbank sieht so aus, als könne der alte Weissbart aus der Glogauer Straße jederzeit wieder zur Arbeit kommen, und alles läge noch an seinem alten Platz. Auch die Arbeit des Eichens ist noch immer die gleiche, noch immer laden Nießler und seine Mitarbeiter die eisernen Gewichte auf das hölzerne Wägelchen und ziehen sie durch ihren Laden, um sie ins Auto zu hieven und damit zu irgendeinem alten Meßinstrument zu fahren, das am anderen Ende der Stadt seit Jahrzehnten seinen Dienst tut, aber eben alle paar Jahre geprüft werden muß. Werkstätten wie die von Nießler gibt es nicht mehr viele. Trotzdem sind es keine einfachen Zeiten, es klingelt nicht mehr so laut in den Kassen wie damals in den Siebzigern. Nur das Telefon, das klingelt immer noch. |