November 2007 - Ausgabe 92
Der Mensch
Nana Lassak
von Saskia Vogel
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Irgendwann zwischen 20 und 25 veränderte sich ihr Gesicht. Sie war gealtert. Und wenn heute jemand Nana Lassak fragt, wie alt sie sei, dann sagt sie manchmal: »Alt!« Und jedes Mal wird ihr widersprochen, jedesmal hört sie die gleichen Worte: »Du bist doch noch jung, das Leben liegt noch vor dir.« Das stimmt. Einerseits. Auf dem Papier ist sie gerade mal 27 Jahre alt. Doch die Fülle ihrer Erinnerungen vermittelt ihr das Gefühl, älter zu sein und schon viele verschiedene Stufen in ihrem Leben durchlaufen zu haben. Jede einzelne getrennt durch einen tiefen Schnitt. Es gab eine Zeit, da starrte Nana sich täglich im Spiegel an. Minutenlang, bis das Bild verschwamm und veränderte Züge annahm. Bis die Konturen nicht mehr dieselben waren. Es ist nicht anzunehmen, daß irgendwann das Bild aus dem Spiegel trat und Nana sich an seiner Stelle in den Spiegel flüchtete. Es ist eher anzunehmen, daß sich eines Tages jener Teil von Nana abspaltete, der seinen eigenen Weg gehen wollte. Nanas Augen sind blau. Und sie sind verschieden: Das linke Auge schaut zielgerichtet geradeaus, das rechte ein winziges bißchen zur Seite. Die beiden Blickrichtungen symbolisieren für Nana zwei Tendenzen ihrer Persönlichkeit: Die zielstrebige Perfektionistin einerseits, und das autistische Kind andererseits. Richtig jung war Nana mit 18. Voller Energie. Sie kam gerade aus Nordostbrasilien, wo sie nach dem Abitur »das beste Jahr ihres Lebens« verbracht hatte. In den Slums der Kleinstadt Arcoverde. Sie arbeitete in einem Sozialprojekt und unternahm Spaziergänge bei glühender Hitze durch die steinigen Territorien der »Xukuru«Indianer. Sie wanderte stundenlang über Felsplateaus, an Wasserfällen und uralten, moosüberwachsenen Friedhöfen vorbei, bis für sie der Raum nur noch aus Einsamkeit und Vergessen bestand. Foto: Michael Hughes
Eines Tages traf sie auf einer ihrer Wanderungen eine Familie, die völlig isoliert zwischen den zerklüfteten Felsen lebte. Keines der drei Kinder konnte richtig laufen, sie krochen über den Boden der Lehmhütte, die Augen voller Fliegen. An der offenen Feuerstelle stand eine ausgemergelte Frau. Wegen des beißenden Qualms konnte Nana den kleinen Jungen, der mit einer eitrigen Bauchwunde und DengueFieber im Delirium auf einer Pritsche lag, kaum erkennen. Vor der Hütte saß ein alter Mann auf einem Hocker und spielte auf einer Holzflöte. Die fröhliche Melodie wirbelte die zitronengelben Falter auseinander, die blutroten Nektar aus den Wildblumen saugten. Nana setzte sich neben den Mann, der seine knochige Hand auf ihren Kopf legte und flüsterte: »Das ist das Leben.« In keinem späteren Augenblick wird Nana diese enge Kluft zwischen Tod und Leben so deutlich erfahren wie in diesem. Dem Tod hatte sie schon früh ins Antlitz geblickt, schon als Teenager warf sie so viele Tabletten ein, daß sie ohnmächtig wurde und zwei Tage bewegungslos im Bett lag. Auf ihrer Reise nach Brasilien aber entschied sich Nana für das Leben. Vielleicht deshalb wird die Liebe zu diesem Land wohl ewig dauern. Aufgepumpt mit einem Jahr voller Karnevalsrythmen, Samba, Licht und Farbe schlägt sie wieder in der öden Realität ihres Heimatstädtchens in SchleswigHolstein auf. Und muß an ihre Zukunft denken. Die Frau vom Arbeitsamt rät ihr, BWL zu studieren. Nana aber hat andere Pläne: Sie möchte Autorin werden. Mit einem Schulaufsatz bewirbt sie sich bei einem Verlag in Bochum. Der Schulaufsatz sei blöd, meinen die Redakteure. Doch die Person Nana finden sie gut. Und stellen sie nach einem Praktikum als Kolumnistin ein. Sie hat ihren eigenen Schreibtisch, ein eigenes »Ressort« und ihr erstes eigenes Geld auf dem Konto. Ein Zimmer mit schiefen Wänden und runden Fenstern in einer AnthroposophenVilla im Stadtteil Stahlhausen – gemeinsam mit einem Schauspieler und einem Psychologen. Der Psychologe leiht Nana Musils »Mann ohne Eigenschaften«, erzählt ihr von Wittgenstein und analysiert Nana am liebsten gleich morgens am Frühstückstisch. Manchmal haut Nana mit der Faust auf den Tisch, wirft die Tür hinter sich zu und verbringt den Abend bei ihrem Freund Massar in seiner zugigen TankstellenWohnung, wo die ganze Nacht der Fernseher läuft. Weil Massar zu viel vom Krieg im Kosovo mitbekommen hat. Weil Massar keine Stille mehr erträgt. Eines Tages besucht Nana ein Wochenendseminar für Kommunikationstraining, das eine politische Stiftung in einem Tagungshaus in Süddeutschland anbietet. Alle Teilnehmer müssen sich vor laufender Kamera vorstellen. Anschließend werden Gestik und Mimik analysiert. Als Nanas Video ausgewertet wird, sind sich die Teilnehmer nicht sicher, wie sie die Figur einzuschätzen haben, die dort zu ihnen spricht und sagt: »Guten Tag, ich bin Nana, ich bin 21 Jahre alt«. – »Deine Mimik, deine Gesten, dein ganzes Wesen widerspricht allem, was du sagst!«, meint lakonisch eine der Teilnehmerinnen. Der Kommunikationstrainer nennt es »latente Grenzüberschreitung« und wendet sich dem nächsten Video zu. Nana kann sich nicht so schnell wieder von sich abwenden. Sie fragt sich, warum sie diese kleinen Narben an den Handgelenken hat. Warum andere die nicht haben. Sie kann sich ein Leben ohne Narben nicht mehr vorstellen, immer wieder sitzt sie in der überfüllten UBahn zwischen den Menschen und hat ein kleines Messer unter der Jacke, und das Päckchen Rasierklingen landet so selbstverständlich in ihrem Einkaufswagen wie Haarshampoo und Milch. Und dann kommt die Phase, die Nana als eine der wichtigsten in ihrem Leben beschreibt: Sie erfüllt sich einen Traum und geht zum Studium nach Berlin. Sie schreibt weiter für den Verlag aus Bochum und bekommt sogar ein eigenes Internetprojekt. Es heißt »Nanas Tagebuch« und genießt absolute Narrenfreiheit. Täglich berichtet sie für die Heimat aus ihrem Leben als Studentin der Germanistik an der FU Berlin. Sie stellt freche Fotos von sich ins Netz und schreibt freche Worte dazu: »Ich stürze mich ohne Rücksicht auf Verluste ins ausschweifende Berliner Nachtleben, werde mich auf dunklen Hinterhöfen rumtreiben und an ominösen Tresen rumhängen. Erwartet mich nicht vor Morgengrauen aus dem Untergrund zurück – mit verwischter Schminke und einem blaugeschlagenen Auge.« Um dann einige Tage später über ihren seelischen Kater zu philosophieren: »Ein rauschhaftes Leben hat Ennui zur Folge. Ennui ist der französische Begriff für Langeweile und steht für die innere Verbrennung und den tiefen Fall nach einem Rausch ohne Unterbrechung. So jedenfalls sagt es Charles Baudelaire.« Mehrere tausend User klicken täglich auf ihre Seite, der Bochumer Verlag ist höchst zufrieden. Nana avanciert zu einem kleinen Star, täglich erhält sie Liebeserklärungen, sogar die große Presse berichtet über ihr Tagebuch, gerade kommt die Hypewelle um den RealityDokumentarismus mächtig ins Rollen. Nana ist glücklich. Doch immer öfter finden sich zwischen Shampoo und Zahnpasta die kleinen Päckchen mit den silbernen Klingen. Manchmal wird sie schon von ihren ersten Berührungen so high, daß sie sich später kaum noch erinnern kann. Auch das Studentenwohnheim in Dahlem hat sie schon lange verlassen. Sie wohnt in einer ChaosWG auf dem Prenzlauer Berg und knüpft ihre Existenz etwas zu stark an die ihres Mitbewohners. Als der eines Tages die Tür zuschlägt, geht alles plötzlich ganz schnell: Das Blut rinnt und rinnt und taucht Nanas Ärmel in Purpur. Dann färbt es die Dielen und zieht seine blutige Spur durch den Flur, über den Badezimmerboden, um sich glucksend in den Waschbeckenabfluß zu drehen. Schnitt. Nana bricht mit ihrer Erzählung ab und kehrt aus dem Jahre 2001 zurück ins Hier und Jetzt. Sie sitzt in ihrer Altbauwohnung in Kreuzberg. Der gußeiserne Kohleofen wärmt die vom goldenen Herbstlicht durchflutete Wohnküche. Schmal wie sie ist, versinkt sie fast in dem tiefen Sofa mit seinen farbigen Wolldecken zum Aufwärmen der Seele. Tatsächlich ist Nanas Seele im Sommer 2007 endlich warm geworden. Sie kommt voran in ihrem Leben. Sogar ihr Studium hat sie nebenbei geschafft. Und mitten in Kreuzberg eine Insel der Ruhe gefunden, eine Baumhöhle im 5. Stock. »Die Wohnung war völlig heruntergekommen, als ich sie vor einem Jahr gemietet habe. Die Holzdielen waren mit einer zentimeterdicken Schicht Estrich verkleistert.« Nana renovierte ihre Wohnung im Alleingang. Von Firmen erhielt sie nur Absagen: »Estrich schleifen wir nicht ab, davon gehen die Maschinen kaputt«, warnten die Handwerker im Berliner Dialekt und fügten versöhnlich hinzu: »Legen sie doch ’nen Teppich druff, junge Frau«. Doch Nana will keinen Teppich, sie will die Dielen freilegen. Um sechs Uhr früh steht sie auf und besorgt sich eine Flex und megahartes Schleifpapier. 48 Stunden rutscht sie trotz Mundschutz mit Staublunge auf den Knien herum und pulverisiert über 50 Quadratmeter Estrich, bis sie vor schwarzen Staubwolken nicht einmal mehr die eigene Hand vor Augen sehen kann. Unterstützung erhält sie von einem Freund, der ihre Hartnäckigkeit noch heute bewundert. Als endlich der Stromkreislauf zusammenbricht und die Sicherungen herausfliegen, weil die Maschinen seit Tagen heißlaufen, macht der Freund den Vorschlag, die Flex statt in der Steckdose an Nana anzuschließen: »Du hast garantiert genug Strom, um das ganze Haus abzuschleifen.« Das Kompliment sitzt. Und es ist wahr. Nana Lassak ist stark. Sie weiß, was sie will. Vielleicht ist sie ja auch viel jünger, als sie immer glaubt. Vor allem dann, wenn der Blick ihres rechten Auges sich leicht nach innen verschiebt. Saskia Vogel |