Kreuzberger Chronik
November 2007 - Ausgabe 92

Straßen

Die Obentrautstraße


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von Werner von Westhafen

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Es war nicht zufällig das Olympiajahr 1936, in dem man die einstige Mühlenstraße nach einem sportlichen Kriegshelden umbenannte: Nach Hans Michael Elias von Obentraut, der als der bereits über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt war. Daß die Nazis den Kämpfer fürs Vaterland verehrten, hat seiner Popularität indes kaum geschadet. Bis heute ziert die Karikatur des zipfelmützigen Bauern selbst die Titelblätter ausländischer Zeitungen und Magazine, die in ihm allerdings nur noch das Sinnbild für den deutschen Spießbürger sehen.

Die Wandlung vom Helden zur Clownsfigur hat der alte Ritter vor allem dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. zu verdanken, der seinen Michel über alle Maßen verehrte. Im deutschen Frühling von 1848 war die Gestalt mit der Schlafmütze deshalb eine willkommene Gelegenheit für die Revolutionäre, sich gleichzeitig über den König und auch über jene verschlafenen Bürger lustig zu machen, die sich lieber in ihre Kammern verzogen, als zu den Waffen zu greifen. Heinrich Heine schrieb »Der Michel nach dem Herbst«, und auch der Karikaturist Glaßbrenner konnte sich nicht zurückhalten, den Michel vor den Karren der Ideologie zu spannen.

Der historischen Figur des von Obentraut jedoch werden die Kritiker ebensowenig gerecht wie die Groupies des legendenumwobenen Kriegsherren, und auch die Historiker bringen wenig Licht in die Sache, denn der im 17. Jahrhundert in unzähligen Volksliedern verehrte Michel ist aus den Geschichtsbüchern völlig verschwunden. Es scheint, als hätten im Lauf der vier Jahrhunderte so viele Legenden den Michel umrankt, daß am Ende von Hans Michael Elias nichts mehr sichtbar war.

Belegt ist, daß der älteste Sohn des Johann Bartel von Obentraut und seiner Frau Anna Apollonia Schenkh von Schmittberg am 2. Oktober 1574 in Heddesheim bei Kreuznach geboren wurde. Angeblich schon 1592 kehrte der eigentlich zum Jurastudium nach Heidelberg abgewanderte Sohn mit dem Leutnantspatent in der Tasche wieder heim, ein Jahr später drang die Kunde heldenhafter Taten aus Ungarn, wo der wilde Reiter mit den Österreichern gegen die Türken kämpfte und diese 1606 endlich zurückdrängte. An seiner Seite kämpfte damals ein Mann, der in von Obentrauts Leben eine bedeutende Rolle spielte: Graf Tilly, der spätere Feldherr und Oberbefehlshaber der Katholischen Liga.

Mit 34 Jahren war von Obentraut bereits ein gestandener Offizier und trat in den Dienst der frisch gegründeten Protestantischen Union ein, wo er schon bald ein Heer von 500 Reitern unter sich hatte. 1618 brach der Dreißigjährige Krieg aus und gab dem Reiter die Möglichkeit, sich zu profilieren. Im Winter 1620/1621 wurde die Pfalz von einem spanischen Heer bedroht, doch von Obentraut soll »seine Gegner ständig durch überraschende Vorstöße und Ausfälle in Atem gehalten haben.« Die spanischen Söldner sprachen respektvoll vom »Miguel Aleman«, dem »deutschen Michel«, und erzählten, daß er – im Gegensatz zu seinen Kollegen – gern auf Amtstracht und Rüstung verzichtete und am liebsten in Zivil unterwegs war. Dann sah man den stolzen Ritter aus dem Hunsrück mit Kniehosen, Wams und Zipfelmütze. Doch was
Foto: Kreuzberg Museum
den spanischen Zeitzeugen imponierte, gab den Karikaturisten des 19. Jahrhunderts Anlaß zum Spott.

1626 verteidigte der protestantische Reitergeneral eine ganze Reihe niedersächsischer Städte erfolgreich gegen den Ansturm der Katholiken. Der Anführer der Katholischen Liga war sein alter Bekannter aus den Ungarnkriegen: General Tilly. Im Duell der alten Freunde lag von Obentraut nach Punkten klar vorne und brachte Tilly im September 1625 eine entscheidende Niederlage bei. Noch 1953 bezeichnete die Nienburger Tageszeitung Die Harke von Obentraut als den »Befreier von Nienburg«.

Tilly hatte die Festung von Nienburg an der Weser komplett umstellt, aber »Obentraut griff überraschend an, vernichtete die Verschanzungen des Brückenkopfes, steckte das provisorische hölzerne Brückenwerk in Brand und konnte die gegnerische Truppe schlagen.« Tilly beschoß die Stadt von allen Seiten und versuchte, sie im Sturm zu nehmen, doch mindestens dreimal gelang es von Obentraut, Wagen mit Proviant, Geschützen, Pulver und Blei durch die Reihen der Belagerer in die Festung zu bringen. Nachdem Tilly einen Monat »vergeblich alles aufgeboten hatte, um die Stadt in seine Gewalt zu bekommen, sah er sich genötigt, »am 24. September in aller Stille ohne Rührung des Spiels noch Trompeten wieder abzuziehen«, 4.000 Mann soll er verloren haben. Von Obentraut wollte Tillys geschwächten Truppen nachsetzen und zum vernichtenden Schlag ausholen, doch die Heeresführung lehnte ab.

So konnte sein alter Feind in aller Ruhe auf Rache sinnen, und noch im November des gleichen Jahres eroberte Tilly die Burg Calenberg und näherte sich unbemerkt den Obentrautschen Truppen bei Seelze. Die Nachricht erreichte den Helden vom Hunsrück im Schlaf, noch mit der Mütze auf dem Kopf und mit nur einem Stiefel am Fuß soll er sich wütend aufs Pferd geschwungen haben. Nur 700 Reiter standen den

10.000 Kriegern des Feindes gegenüber, unzählige Kugeln sollen den Körper von Obentrauts durchlöchert haben. In den Alten Krug habe man den Schwerverletzten gebracht, und Tilly persönlich sei erschienen, um ihm sanft die Augen zu schließen. Natürlich stehen die überlieferten letzten Worte des Kriegers seinen Taten in nichts nach: »Denk an das Reich, Tilly, an das Reich…!«, soll er den Gegner gemahnt haben.

Den Leichnam seines Freundes hat Tilly offensichtlich mitgenommen, denn von Obentraut kam noch lange nicht zur Ruhe: Erst drei Monate später wurde der tote Michel auf der Ihmebrücke gegen zwei Katholiken eingetauscht und in der Marktkirche von Hannover begraben.

Werner von Westhafen


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