Kreuzberger Chronik
März 2007 - Ausgabe 85

Die Reportage

Theater der Arbeitslosen


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von Horst Unsold

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Sie ist ein seltsam altmodisches Objekt in der Urbanstraße, die Villa gegenüber den quadratischpraktischen Quadern des Urbankrankenhauses, und neben dem grauen Betonguß, in dem eine Filiale des Bezirksamtes untergebracht ist. Einst war hier das Offizierskasino, wer die Freitreppe zur Villa hinaufstieg und den Vorraum mit dem großen Kamin betrat, gehörte zu den Privilegierten.

Nach dem Krieg ließen sich amerikanische Mennoniten in den stilvollen Räumen nieder, und 1954 wurde das »Nachbarschaftsheim Urbanstraße« gegründet, ein Verein, der mit dem »Mittagstisch« und »Essenslieferungen« die Nachkriegsnot in der Nachbarschaft zu lindern versuchte. 1961 wurde der fahrbare Mittagstisch daraus, das Essen auf Rädern oder »meals on wheels«, wie die Amerikaner es nannten.

Seit dem Tanz und Glanz der Uniformen war die Villa immer ein Haus mit caritativem Charakter, und heute nutzen verschiedenste Projekte die günstigen Räumlichkeiten, angefangen bei der Berliner Liedertafel über die Seniorentanzgemeinschaft taktlos, über den Tauschring mit seiner Kreuzerwährung für all jene, denen es an Euros fehlt, bis hin zur Freiwilligenagentur, die keine bezahlte, sondern nur noch ehrenamtliche und unentgeltliche Arbeit vermittelt – für diejenigen, die den Verlust eines schlecht bezahlten Arbeitsplatzes mit dem Verlust des Lebensinhaltes verwechseln.

Eine nicht ganz neue Masche im sozialen Auffangnetz für Abstürzende in unserer Gesellschaft sind Theaterprojekte mit Therapiewirkung. Nach so erfolgreichen Gruppierungen wie dem Obdachlosentheater der Volksbühne oder dem Behindertentheater Thikwa in der Fidicinstraße bietet die Schauspielerin und Regisseurin Petra Schulz nun auch »Theater für Arbeitslose« an. Doch wie so oft wachsen die ursprünglich eher sozialen Projekte weit über sich hinaus und stellen Erstaunliches auf die Beine.

Vier sind es nur an diesem Montagnachmittag, drei Frauen und ein Mann, »das typische Geschlechterverhältnis«, zumindest in den Gruppen des Nachbarschaftshauses. Tief und laut ein und ausatmend stehen sie in der Mitte des Raumes, bewegen sich über den knarrenden Parkettboden der alten Villa, schwingen die Arme wie Schlittschuhläufer. Sie sollen locker werden, die Steifheit verlieren, sich freier fühlen. Bereit sein, sich zu artikulieren, »ihre Meinung zu sagen«, wie Petra Schulz es einmal formuliert hat. »Wir alle haben viel zu sagen und zu geben, aber nicht oft die Gelegenheit dazu.«

Die vier Gestalten bewegen sich durch den Raum, einzeln, jeder für sich, ein bißchen erinnern sie an Becketts verlorene Spiele oder Handkes Inszenierungen, in denen Menschen einen ganzen Theaterabend lang aneinander vorüberlaufen, nur ab und zu wie zufällig aneinanderstoßen, woraus sich winzige Handlungen, ein kleines bißchen Kommunikation und Leben entwickelt.

Die Spielerinnen und Spieler in der Villa wirken wie Menschen, die nach langer Zeit im Krankenbett die ersten zaghaften Gehversuche machen, nach Monaten zum ersten Mal den Arm heben. Zu zweit stehen sie da jetzt, haben sich zu Paaren gefunden, stellen sich hintereinander auf und heben den Arm des Mitspielers, als hätte der keine eigene Kraft mehr, und geben ihm einen Schwung, bis er oben in der Höhe über dem Kopf einen Moment stehenbleibt und wieder zurückfällt. »Ihr müßt den Schwung mitnehmen, den Euch die anderen geben, Ihr müßt den Arm pendeln lassen, Ihr müßt den Anstoß zur Bewegung werden lassen«, sagt die Regisseurin. Da ahnt auch Mathias, der heute zum ersten Mal im Nachbarschaftshaus ist, schon in der Aufwärmphase, wo es hingehen soll. Daß es um mehr geht als nur ums Theaterspielen. Daß es darum geht, eine Situation zu bewältigen, Selbstbewußtsein, Rollen zu entwickeln.

Jetzt müssen die Spieler nicht nur den Arm des anderen in Schwingung versetzen, sondern den ganzen Menschen voranschieben, ihn möglichst weit in den Raum schleudern. Die so Angetriebenen sollen sich weiterbewegen, sie sollen den Schwung nicht abfangen und gleich in ihre starre Haltung zurückfallen. Sie sollen sich weiterbewegen. Jetzt wird die Dozentin deutlicher und übersetzt die durch die Bewegungen entstandenen Bilder in Sprache, interpretiert die Metaphern: »Ihr seid keine Leidtragenden«, keine Gestoßenen, keine Opfer, »sondern Ihr nutzt den Schwung, den man Euch gibt, Ihr gebt der Bewegung Richtung und Sinn.«

Petra Schulz beherrscht das Spiel. Seit ihrem Studium arbeitet sie am Theater, begann in einer Laienspielgruppe, war Regisseurin und Schauspielerin, 24 Jahre davon in Frankreich. Noch immer pendelt sie zwischen Berlin, Polen, Frankreich …, ist immer noch unterwegs. Aber wenn sie wieder mal nicht da ist, dann probt die Gruppe ohne sie. »Und da zieht sich keiner den Hut auf. Da sind alle gleich in der Gruppe.«

Foto: Dieter Peters
Am Anfang bestand diese Gruppe tatsächlich nur aus drei Arbeitslosen. Drei waren es. Heute sind sie zehn. Ein Jahr lang proben sie nun, ein Jahr, in dem einige kamen, andere gingen. Einige sind noch immer arbeitslos, andere haben noch mal einen Job gefunden. Sie haben kurze, graue Haare oder lange rote, sie tragen Westernstiefel oder Turnschuhe, sie haben Geheimratsecken oder Ohrringe, sie waren Ingenieure oder Pädagogen, und sie heißen Martina, Achmet, Michael oder Dagmar. Irgendwann, vor nicht gar zu langer Zeit, hatten sie alle noch eine Stelle. So wie Ingeborg, die zusammen mit fünfzehn anderen Frauen, die einst in der Villa arbeiteten, plötzlich ohne Job dastand, weil die Stadt kein Geld mehr für soziale Projekte hat. Jetzt kommt sie zum Theaterspielen in die Villa. Auch Christine hatte mit Theater nie viel zu tun. Aber eines Tages kam sie an der Villa vorbei und las diese Formulierung: »Wir haben manchmal was zu sagen. Aber wir kommen so selten dazu«. Als sie das las, war klar: Da mußte sie »dringend hin!« Auch die andere Kristine hatte bislang nur mit Marionettentheater zu tun, und auch sie dachte: »Jetzt hast du Zeit. Also mach etwas Sinnvolles damit!« Und darum geht es ihnen wohl allen, das verbindet sie: die Zeit. Die plötzlich viele Zeit. Die Zeit, die zur Leere werden kann, wenn man nichts dagegen unternimmt. Die meisten Spielerinnen und Spieler von Frau Schulz haben es geschafft, sie sind »terminlich ziemlich ausgelastet!« Manchmal mehr als früher.

»Gut ist es erst, wenn Ihr das Knarren dieses blöden Parkettbodens nicht mehr hört!«, sagt Petra Schulz. Noch immer geben sich die Menschen im Raum der Villa Anstöße. Sie laufen drei, vier Schritte, beugen sich ein wenig nach vorn, um besser sehen zu können, halten die Hände schützend über die Augen, als blende sie eine Sonne, oder als müßten sie in die Ferne blicken, als gäbe es dort etwas zu sehen. Als gäbe es in dieser Ferne eine Zukunft. Oder sie drehen sich nach drei taumelnden Schritten nach ihrem Partner um und sehen ihn verwundert an – als sähen sie ihn zum ersten Mal. So münden die anfangs richtungslosen Bewegungen allmählich in eine Pose, in eine Aktion, werden zu Tat und Handlung. »Zukunft«, sagt Petra Schulz nun, »es geht hier auch um Zukunft. Das soll eine Jahresanfangsgeschichte werden, keine Endzeitgeschichte.«

»Widerstehen« heißt das Stück, das die Regisseurin mit den Arbeitslosen einstudieren und Ende Mai aufführen möchte. Widerstehen, das heißt stark und selbstbewußt sein. Sich Positionieren im neuen, ungewohnt leeren Raum. Aber dieses Widerstehen ist auch ein Wiedererstehen aus der Tatenlosigkeit. Was Petra Schulz und ihre Schauspieler hier jeden Montag machen, ist Therapie und Theater zugleich. Eine wunderbare, heilsame Mischung, die ihre Mitspieler allmählich aus der Sprachlosigkeit führt.

»Und jetzt formuliert Ihr einen Gedanken, der zu dieser Pose paßt. Ihr sprecht ihn noch nicht aus, aber Ihr denkt ihn jetzt schon.« Die Haltungen, die sie jetzt immer wieder einnehmen, sprechen längst ihre eigene Sprache, immer wieder hebt Mathias die Hand vor die Augen, längst blickt er hinaus aus dem großen Fenster der Villa, in dem rote Papierrosen hängen, Farbtupfer vor dem grauen Tag draußen auf der Urbanstraße mit ihren hektischen Krankenwagen, die mit Blaulicht und Sirene die Notaufnahme ansteuern. Dann endlich öffnet er den Mund und sagt: »Was ist denn das?« Eine Mitspielerin antwortet: »Ich höre Musik?« Mathias entgegnet: »Ich höre nur Autos!« Und jetzt lachen sie. Alle und ungespielt.

So kommen sie Schritt für Schritt voran. So finden sie Worte. Sie haben begonnen zu kommunizieren, und sie stolpern nicht mehr so viel. Sie sind nicht mehr so steif, sie schwingen, sie drehen sich, tanzen jetzt über die Fläche, und jetzt hören sie es wirklich nicht mehr, das lästige Knarren des Parkettbodens. Sie gehen auf in ihren Rollen. »Und jetzt möchte ich, daß jeder einen kleinen Text schreibt, einen Dreizeiler, ein Gedicht, bestehend aus fünf Silben, sieben Silben, und wieder fünf Silben.« Es wird wieder still im Raum, nur das Geräusch der Stifte auf dem Papier ist zu hören. Und dann stehen sie im Raum, die Schauspieler, im Zentrum der Aufmerksamkeit, halten die Augen geschlossen, und sprechen:



Grau ist der Regen

Aber die Blätter sind warm

Der Sommer kommt morgen

Oder:

Die Rakete steigt

Lichter blinken in der Nacht

Der Knall macht mich taub

Oder:

Unter den Wolken

Schau doch mal hin: die Sonne

Kohlsuppe schmeckt gut

Zögernd sind sie gekommen, steif waren sie, unsicher und stumm. Sie hatten etwas zu sagen und wußten nicht, wie. Jetzt haben sie eine Sprache gefunden. Eine verständliche Sprache. Eine Sprache, die man hören wird. Eine schöne Sprache sogar. Im Juni werden sie auf die Bühne treten, die Bühne irgendeines kleinen Kreuzberger Theaters. Und es Aussprechen. Im Juni, wenn der Sommer kommt.

Horst Unsold

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