Kreuzberger Chronik
März 2007 - Ausgabe 85

Die Geschichte

Die heimlichen Stars vom Leierkasten


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von Hans W. Korfmann

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Der Leierkasten
Alf Trenk
Nicht alle, die vor bald 50 Jahren im Leierkasten verkehrten, trugen diese dekorativen Beinamen, die bis heute unvergessen sind. Es war die Elite, es waren die Protagonisten des Hauses, die sich gegenseitig mit nicht ganz unpoetischen Namen schmückten. Die Beinamen waren Orden und Auszeichnungen, man trug sie mit Stolz. Nur Charly, der Wiener, schämte sich ein bißchen. Als er eines Tages mit Freunden über IdiotenHarry sprach, sagte er plötzlich in diesem breitgetretenen Dialekt aus dem 6. Bezirk: »I kaa diese Beinoamen aafach net laiden.« Überrascht fragte einer der Diskutierenden: »Warum denn, hast Du auch schon so’n Namen?« Charly schwieg. Denn Charly nannten sie eigentlich alle »FotzenCharly«.

Andere, nicht weniger illustre Gäste im Leierkasten hießen SchrottJochen, IdiotenHarry oder Salmonellen Bert. SchrottJochen war der Schrotthändler, KlavierHel mut reparierte Klaviere, IdiotenHarry war eigentlich ein ganz netter Kerl, und SalmonellenBert war der Koch in der Nulpe. SchraubenWerner stotterte ein bißchen, wenn es drauf ankam. Zum Beispiel an jenem Abend, als sich FummelWerner wieder mal an eine Frau heranschlich und unauffällig an ihrem Kleidersaum herumzufummeln begann. Da stand SchraubenWerner auf und sagte: »Dididie hahahab ich aaaaber zuerst gesehn!«

Dennoch war der Leierkasten kein Trinkerlokal. Obwohl hier mehr getrunken wurde als sonst irgendwo in der Stadt. Aber der Leierkasten war der anerkannte Sitz der »Malerpoeten«, die Wirt Mühlenhaupt gemeinsam mit Prominenten wie Günter Grass und Wolfdietrich Schnurre 1971 gegründet hatte. Während im Vorderzimmer gezecht wurde, entstanden im von Malern, Dichtern, Musikern und anderen Lebenskünstlern besetzten Hinterzimmer ab 1963 die sogenannten »Biertrinkerblätter aus dem Leierkasten« 4 Seiten der Malerpoeten für 35 Pfennig. Natürlich wurde nicht nur im Vorderzimmer mit der Jukebox, sondern auch im Hinterzimmer reichlich getrunken. Der Boden vor der Bühne soll derart klebrig von verschütteten Alkoholika gewesen sein, daß eines Tages sogar das Pedal eines Schlagzeugs kleben blieb – wie sich der Schlagzeuger der White Eagle Band noch heute gern erinnert.

Der Leierkasten war kein Lokal, in dem es nur darum ging, Bier zu verkaufen. Die Kreuzberger Neue Zeitung des SzeneJournalisten Runkel, die ihre Leserschaft stets mit den neuesten Nachrichten aus den Kreuzberger Kneipen versorgte, schrieb 1979 über den Leierkasten: »Nachdem der Bierpreis auf 1,80 (früher 2,50) heruntergedonnert ist, ist kürzlich auch das Damenklo wieder repariert worden. LifeMusik in be und unbekannter Formation liefert das Wochenende. Schlägereien sind selten«. Das war nicht ganz falsch. Denn am Anfang gehörten Faustkämpfe noch zur Tagesordnung, später aber etablierte sich das Wochenende.

Der Leierkasten
Alf Trenk
Sogar der Allmächtigen hinter dem Tresen, der Rosi, sagte man nach, daß sie im Austeilen von Backpfeifen nicht zimperlich war. Und auch ihre Komplizin, die »Dicke Inge«, die morgens immer zum Saubermachen kam, fackelte nicht lange. Als nachts um 3 ein Typ vom Gewerbeaufsichtsamt erschien und das Lokal inspizieren wollte, sagte der Wirt nur: »Hier ist alles sauber! Hier putzt die Inge!« Doch der Typ ließ nicht locker, hob den Deckel zur Kühlanlage an und rief auch schon: »Wat is’n dette? Det is ja’n janzer botanischer Jarten!« In diesem Moment erschien Inge und stauchte den armen Inspektor derart zusammen, daß er am Schluß nur den Handtuchautomaten im Damenklo beanstandete.

So machte Inge immer »klar Schiff«. Als sich eines Abends der amerikanische Pianist Mac Gill und der Bassist Rettenbacher, die beide viel zu betrunken zum Musizieren waren, nur noch mit einem Feuerlöscher vor dem randalierenden Publikum zu retten wußten, nahm die resolute Putzfrau am nächsten Morgen einfach einen Wasserschlauch und spritzte das Lokal von der Decke bis zum Boden ab. »Berge von weißem Schaum«, so Augenzeugenberichte, sollen die Zossener Straße hinuntergeflossen sein.

So stand im Leierkasten auch die Putzfrau noch ihren Mann, weshalb sie auch die einzige Frau im Club war, die einen dieser Beinamen hatte: Dicke Inge. Es gibt viele anderer solcher Geschichten über die Gäste vom Leierkasten, über solche Leute wie NervenDetlev, PornoUwe, SockenPaule und MützenFritze. »Weil der bekam immer eins auf die Mütze. Obwohl er gar nicht so dumm war«. Keiner, der irgendetwas konnte, oder der zumindest irgendwann einmal irgendwie aufgefallen war, kam ohne Namen davon.

Die einzigen, die regelmäßig im Leierkasten erschienen und ohne informativen Beinamen leben konnten, waren die Wirte des Leierkastens. Egal, ob sie Schulz, Jessen oder Mühlenhaupt hießen: Den Wirten vom Leierkasten zollte man Respekt. Wer das nicht tat, dem ging es schlecht. So wie dem Wiener aus dem zwielichtigen 6. Bezirk, der nicht nur »F...Charly« genannt wurde, sondern auch Charly V – weil die Frauen seinen Namen so schwer über die Lippen brachten. Charly begrüßte eines Abends den Wirt mit den unvergeßlichen Worten: »Na, Schnulli« – und schon hatte er die Faust im Gesicht. Charly und der Wirt sollen bis auf die Straße gerollt sein. Deshalb konnte aus einem Schulz nie ein SchnulliSchulz werden. Schulz blieb Schulz.

Lediglich der Trödler und Maler Kurt Mühlenhaupt, der das legendäre Lokal in der Baruther Straße vor 46 Jahren eröffnet hat, erhielt so etwas wie einen Beinamen. Bis heute sprechen die, die ihn kannten, am liebsten von »Kurtchen«. So, als gehörten sie zur Familie. Und so, als lebte er noch. Kurt Mühlenhaupt starb im April des vergangenen Jahres. Er wird nicht vergessen werden: nicht als Oberhaupt der Kreuzberger Kunstszene, aber erst recht nicht als der 1. Wirt vom Leierkasten.



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