Juni 2007 - Ausgabe 88
Herr D.
Herr D. auf dem Kinderfest von Hans W. Korfmann |
Alles war wie im vergangenen Juli. Die Sonne schien herrlich, und Herr D. hatte Kreuzberg endlich einmal wieder verlassen und durch den Tierpark radeln wollen, aber dann kam die Absperrung. Damals war es die Fanmeile der Fußballweltmeisterschaft, dieses Mal ein Kinderfest. Herr D. wollte schnell weiter, aber wie damals lockte die Bratwurst. Alles schien wie damals zu sein, nur tanzten damals Menschen aller Nationen auf der Straße Sirtaki, während dieses Mal kleine Mädchen auf den Bühnen die Polka probierten. Mädchen, die für den Auftritt auf der berühmtesten Paradestraße Berlins wahrscheinlich monatelang hatten üben müssen. Mädchen, die die Arme in die Hüften stemmten wie mit allen Wassern gewaschene Wäscherinnen, und die die Beine in den Himmel warfen, als wäre das Leben eine einzige Lust. Herr D. wollte gerade in seine Bratwurst beißen, da rammte ihm eine begeisterte Mutter den Ellbogen in die Seite: »Ist sie nicht süß?« Herr D. konnte ihren Enthusiasmus für die jungen Talente nicht teilen, die auf den drei Bühnen zwischen den Karussells und Luftschlössern die Stars aus der Welt der Erwachsenen imitierten. Die Kinder hatten sich rote Bäckchen auf die blassen Gesichter gemalt und steckten in perfekten Kostümen, aber sie sangen mit schwachen Stimmbändern. Mit weit aufgerissenen Mündern verschlangen sie die großen Mikrofone, während unten am Gatter noch Kleinere zu ihnen aufschauten, und sie schritten wie die Superstars von RTL & Co über die Bühnen, aber sie waren nur Karikaturen. Es war so traurig, daß sich der Herr D. vor der Spreequell-Bühne zum Trost noch ein Bier bestellte. Lediglich auf der ADAC-Bühne war die Qualität der Darbietungen besser. Da tanzte gerade Lexington Bridge aus New York, durchtrainierte Tänzer und gutaussehende Jünglinge, die irgendein pfiffiger Manager nach genauer Marktanalyse so ausgewählt hatte, daß für jedes Mädchen der Richtige dabei war. Die Show war perfekt, und die Zehnjährigen stießen ekstatische Schreie aus. Tränen liefen über die gepuderten, pickligen Wangen, als die »Boys from America« auf die Bühne kamen und ins Mikro hauchten, wie schön die Berlinerinnen wieder mal seien, und als die Jungs in den Unterhemden dann aus dem Backstage traten, um lächelnd Autogramme auf T-Shirts und Postkarten zu schreiben, übertönte ihr Geschrei sogar das Gekrächze des Raben Rudi aus dem Kinderfernsehen, der verzweifelt mit den Flügeln schlug. Als die Mädchen bei den Beatles so laut schrien, dachte sich Herr D., waren sie immerhin schon Verkäuferinnen oder Fahrkartenkontrolleurinnen und hatten allen Grund zur Hysterie. Jetzt waren sie in der 3. Klasse. Seufzend fuhr Herr D. zurück nach Kreuzberg, aber die ganze Stadt schien an diesem Tag voller Kinder zu sein. Er hatte gerade die Yorckbrücken passiert und dachte an den guten Kaffee bei Ludaccio, da kam sie angerauscht: eine Horde grüner Motorradfahrer mit ihren heruntergezogenen Visieren und lauten Sirenen. Herr D. bremste scharf, denn die Meute bog ohne langes Zögern in die Katzbachstraße ein. Mitten im Pulk der Biker fuhr eine schwarze Limousine, und darin saß Frau von der Leyen. Zufrieden blickte sie aus dem Fond des Automobils in eine Welt, die in Ordnung zu sein schien. Wohin sie auch blickte, waren glückliche Familien. Lauter glückliche Wochenendbeziehungskinder. Lauter Kinder, die sonntags ihre Eltern sehen und sprechen konnten. Während sie den Rest der Woche in Kitas, Schulen, Horts und Heimen verbrachten, um ungestört von Deutschlands Superstars zu träumen. |