Kreuzberger Chronik
Juli 2007 - Ausgabe 89

Die Geschichte

Die Geschichte der Schokofabrik


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von Ina Winkler

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Man schrieb bereits das Jahr 1981, und es war keine Sensation mehr, wenn eine Gruppe junger Leute eines jener leerstehenden Häuser besetzte, die aus Sicht der Stadtplaner abgerissen und durch die scheinbar kostengünstige, aber schmucklose Architektur der Nachkriegszeit ersetzt werden sollten. Aufsehen erregten die Aktionen nur noch, wenn die Hauseigentümer sich wehrten und die Polizei mit Schlagstöcken vorrückte.

Die Besetzung der stillgelegten Schokoladenfabrik von Greiser und Dobritz im April des Jahres 1981 war bereits die 170. in der Geschichte der Hausbesetzungen. Aber eine der außergewöhnlichsten. Denn kaum hatten die jungen Leute die Gebäude in der Mariannenstraße und in der Naunynstraße erobert, da erschien bereits eine Delegation und erhob Einspruch. Die Abgesandten allerdings waren keine Vertreter der Eigentümer oder der Politik oder Polizei, sondern einer Frauengruppe, die ihrerseits die alte Fabrik hatte besetzen wollen, um ein langjährig geplantes Projekt zu verwirklichen: ein Frauenhaus.

Foto: Dieter Peters
Im zehnten Jahr der Hausbesetzungen, und nach vielen erfolgreichen Übernahmen, fühlten sich die Besetzer nicht selten wie Besitzer. Deshalb war es nicht verwunderlich, als die weiblichen Abgeordneten den Besetzern der Fabrik eine vergleichbare Immobilie an einem anderen Standort offerierten, als wären sie deren offizielle Besitzer. Die Schokofabrikbesetzer waren dem Tauschgeschäft nicht abgeneigt, obwohl das Alternativobjekt, das die Frauen zum Tausch anboten, erst noch besetzt werden mußte. Doch das bewerkstelligten die siegesgewissen Emanzen im Alleingang, und wenig später tauschten die Frauen und die Männer aus der Schokoladenfabrik ihre Wohnsitze.

Wie gut durchdacht die Aktion war, zeigt, daß auch die Frauen bereits eine halbe Stunde nach ihrem Einzug in die »Schoko« Besuch erhielten. Es handelte sich um den Direktor der Internationalen Bauausstellung, der zwischen den Frauen und dem Eigentümer des Hauses vermitteln wollte. Merkwürdigerweise nämlich arbeiteten einige Architektinnen aus der Frauengruppe im Planungsbüro der Internationalen Bauausstellung 1987, das wohl nicht ganz zufällig auch für die Sanierung des Viertels zwischen Naunyn und Mariannenstraße zuständig war. Offensichtlich hatten auch die Planer der Bauausstellung ein starkes Interesse daran, aus der Schokoladenfabrik ein alternatives Vorzeigeprojekt zu machen und ein architektonisches Exempel zu statuieren. Daß die feindliche Übernahme durch die Frauen nicht ohne die Beihilfe einiger Männer stattfand, mag damals viele der Kämpferinnen gekränkt haben. Heute ist es fast vergessen. Ebenso wie die lange Geschichte der Höfe und Häuser der alten Fabrik.

Sie beginnt 1856 mit einem Mann, der als Dr. med. D. W. Burow auf dem Grundstück Mariannenstraße 6 ein einstöckiges Wohnhaus mit einem Seitenflügel errichten läßt, in das 20 Jahre später als erste weibliche Eigentümerin die geschäftstüchtige Witwe eines Tischlermeisters einzieht. Um mit der rasant wachsenden Stadt mitzuhalten, läßt sie beide Gebäude um 2 Etagen aufstocken, bringt im Vorderhaus Wohnungen und im Seitenflügel Tischlerwerkstätten unter. Ihre Tochter erbt 1887 Haus und Grundstück, doch kurz vor der Jahrhundertwende geht die Immobilie abermals an einen Mann: den Konditor Louis Greiser.

Er baut auf dem Hinterhof zwei weitere Gebäude, einen Seitenflügel und ein Quergebäude, und eröffnet im Vorderhaus den Verkaufsladen der Chokoladenfabrik Greiser und Dobritz. Das Haus erlebt einen Aufschwung, schon 1904 erhält es eine Zentralheizung, ein Fahrstuhl wird eingebaut und das angrenzende Grundstück der Naunynstraße 72 hinzugekauft, um den Ausbau der Produktionsstätten zu ermöglichen. Das Geschäft mit der Schokolade läuft gut, für den Transport müssen Pferdeställe eingerichtet werden, noch später Autogaragen, bis 1942 der Krieg dem Triumphzug der Schokolade ein bitteres Ende bereitet: Die strategisch wichtige Deutsche Telegraphen Gesellschaft mietet sich auf dem Gelände ein. Der Krieg wird trotzdem verloren, und nach den Zerstörungen des Jahres 1945 wird endlich das Land Berlin zur Eigentümerin des verkommenen Grundstückes.

Schokolade wurde nie wieder gekocht. Die »Schokofabrik«, wie das Haus schon bald unter den Bewohnerinnen hieß, war geprägt von der Frauenbewegung der Siebzigerjahre und spiegelte die gesellschaftspolitischen Probleme der Zeit wider. Sie sollte ein Treffpunkt für Frauen werden, eine Insel im Meer der männlich dominierten Gesellschaft. Ärztinnen, Hebammen und weibliche Pflegekräfte planten eine Tagesklinik, insbesondere für schwangere Frauen. Dem Paragraphen 218 wollte man mit Schwangerschaftsabbruch begegnen, andererseits jenen alleinstehenden Frauen, die sich zu einer Geburt entschlossen hatten, mit psychologischer Unterstützung zu Hilfe kommen. Beinahe alle Angebote der Schokofabrik dienten der Befreiung der Frau, egal, ob es sich dabei um Selbstverteidigung, handwerkliche Kurse oder den Werkzeugverleih handelte.

Zwei Jahre nach der weiblichen Übernahme der Häuser war die Zahl der Mitglieder im Verein der »Schokofrauen« bereits auf 60 angewachsen. Die männlichen Verbündeten von der Internationalen Bauausstellung sponserten 50.000 Mark für Umbaumaßnahmen, die IKEAStiftung half mit 160.000 Mark, sogar die Kreuzberger Bezirksverordnetenversammlung unterstützte das längst populäre Projekt mit Sachmitteln. Das Dachgeschoß wurde zum Gewächshaus umgebaut, Solarzellen spendeten Strom, an der Hauswand kletterten Tomaten und Heidelbeeren bis aufs Dach, das nach Süden verglast und nach Norden begrast war. Ein Café wurde eingerichtet und Kulturprogramme wurden inszeniert. Es gab eine Kindertagesstätte namens »Schokoschnute«, die Tischlerwerkstatt »Schokospäne«, eine MutterKindGruppe, die »Rechtsboutike«, das »Frauentelefon« und die stets aktive Architektinnengruppe »Planschok(o)«. Die Schokofabrik wurde zum Exempel, zum Symbol alternativen Wohnens und Arbeitens in Kreuzberg. Und sie blieb es auch dann noch, als die Frauen im »besetzten Haus« längst Miete und Nebenkosten zahlten.

Ina Winkler

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