Februar 2007 - Ausgabe 84
Kreuzberger
Bernd Schulz: Nach Berlin, da gehörste hin
von Hans W. Korfmann
|
Grigoris war der jüngste, und also auch der letzte der drei Söhne. Während die großen Brüder die fruchtbaren Ackerschollen nahe beim Dorf bekamen, blieb Grigoris Loridis nur noch ein sandiges Stück Land am Meer. So blieb ihm nichts anderes übrig, als nach Kanada auszuwandern und in einer Speditionsfirma zu arbeiten. Als er nach 13 Jahren mit ein paar gesparten Dollar nach Paros heimkehrte, weil es seiner Frau zu kalt war in Montreal, hatten die langhaarigen Langzeiturlauber dem einst namenlosen und wertlosen Sandstreifen einen klingenden Namen gegeben: Golden Beach. Und plötzlich sah Grigoris das dürre Land am Meer nicht mehr mit den Augen des Ackerbauern, sondern des zukünftigen Hotelbesitzers. Anfang der Siebziger wandte er den Weinstöcken, Tomaten, Gurken, Auberginen und Kartoffeln seiner Brüder endgültig den Rücken zu und eröffnete in der Mitte der sanft geschwungenen Sandsichel ein Kafenion und eine Zimmervermietung mit Blick auf das türkisfarbene Wasser. Doch die Hippies schliefen lieber am Strand und kochten ihr eigenes Süppchen. Golden Beach war noch keine Goldgrube. Bis eines Tages die zwei Deutschen im Jeep auftauchten, ihre Zelte gleich unterhalb des Kafenions aufschlugen und diese komischen Bretter anschleppten. Keiner der Griechen hatte so etwas irgendwo schon mal gesehen. Neugierig standen sie am Ufer und sahen, wie die Langhaarigen Segel auf die Bretter montierten und davonsegelten. Es war der Zufall, der die beiden Männer an diesen Strand verschlagen hatte, keiner ahnte, daß der »Meltemi« hier so kräftig wehte, daß es die Surfer manchmal in wenigen Minuten bis zur gegenüberliegenden Insel schleuderte. Foto: Privat
Und genau das hatte er vermeiden wollen, der ehemalige Wirt von der Nulpe und vom Leierkasten. Diesen unvergessenen Kreuzberger Kneipen, von denen sie noch immer erzählen, als wäre es gestern gewesen. Die, die es miterlebten. Dort hat Schulz hinterm Tresen gestanden, das waren seine Kneipen, jahrelang hat er gezapft, getrunken, geraucht und Geschichten erzählt. Bis er eines Tages ins Grübeln kam, bis er sich diese Künstlertypen irgendwann genauer ansah, die jede Nacht bis zum Morgengrauen tranken. Da sagte er sich: »Ey, Alter! Du willst doch wohl nicht so werden wie die? Also raus hier!« Er fuhr erst einmal zum Wannsee, kaufte sich eines der ersten Surfbretter in der Stadt, »mit grünem Segel, weil Grün ist die Hoffnung!« und »fiel einen Tag nur ins Wasser«. So lang, bis der Bademeister aus seinem Boot rüberbrüllte: »Jetzt hör endlich auf mit dem Scheiß, du Vollidiot!« Schulz ließ sich nicht beirren, Schulz hatte sich schon mit ganz anderen Typen als Bademeistern angelegt. Schulz brauchte Frischluft, Schulz surfte weiter, einen ganzen Sommer lang, bei Flaute und bei Wind, bis er endlich sicher stand auf dem Brett, bis er irgendwann davonsegelte. Und eines Tages im Orpheus, wo es immer nur Pizza gab, sprach ihn der Besitzer an und fragte: »Hör mal, Bernd, Du kannst doch surfen?« Bernd nickte. » Was hältst du davon, in Griechenland ne Surfschule aufzumachen?« Und weil es die Zeit war, als aus Träumen noch Wirklichkeit werden konnte, fuhr er 1979 mit Klaus Seyfert vom Orpheus nach Paros, mietete in der Inselhauptstadt für ein paar Mark ein Büro und malte ein Schild: Surf und Yachtclub Paros. Damit das ganze auch funktionierte, zogen sie den Vermieter des Büros gleich mit an Bord der zukünftigen Surfbrettflotte. Denn »mit den Griechen ist nicht gut Kirschen essen, wenn es ums Geld oder um die Frauen geht!«, sagt Schulz. Die Griechen machten ihre Geschäfte mit den Touristen nämlich lieber alleine. Deshalb ließen Schulz und Seyfert die Surfschule lieber über ihren Vermieter laufen. Als der aber immer mehr Geld für seinen Namen unter der Konzession wollte, nahm Schulz ihn nach Nulpenwirtart beiseite und sagte: »Du hältst jetzt den Mund. Sonst kriegste eins auf die Fresse!« Die Griechen lieben diese klare und einfache Sprache. Es gibt und es gab nie wieder Probleme seit dieser kleinen Aussprache. Und heute, da steht längst der Name »Schulz« auf dem wichtigen Papier. Schulz gab so schnell nicht auf. Er stand gerade friedlich am Tresen der Nulpe und zapfte ein Bier, da wurde es plötzlich finster. In der Tür stand »so ein Riesenhirte, zwei Meter fuffzig hoch. Ich dachte nur: Oh Mann, jetzt das noch!« Schulz zapfte unauffällig weiter, aber der Mann, der Frankenstein verblüffend ähnlich sah, kam direkt auf ihn zu. Bernd dachte: »Muß das denn sein jetzt?«, aber Frankenstein setzte sich auf den Hocker vor dem Zapfhahn und sagte nur ein Wort: »Bier!« Bernd schob ein Bier rüber. Frankenstein kippte es auf einmal runter. Dann sagte er wieder: »Bier!« »Das ging so zehnmal, ich dachte, das kann doch nicht sein. Der bleibt noch bis Feierabend. Aber dann steht der einfach auf und geht!« Zuerst verspürte der Wirt Erleichterung, dann Ärger. Bernd Schulz war nicht irgendwer, er war der Wirt der Nulpe! Also nahm er allen Mut zusammen und rief Franky nach: »Du mußt noch zahlen!« »Muß ich nicht!«, sagte Frankenstein. »Mußte doch!«, sagte Bernd. Da kam Frankenstein zurück, nahm den vollen Aschenbecher und kippte ihn ins Waschbecken mit den Gläsern. Bernd sagte sich: »Wenn ich den verfehl, bin ich tot!«, und schlug zu, quer übern Tresen, genau auf die Nase. Frankenstein fiel um, Bernd zog ihn auf die Straße hinaus und setzte ihn an die Wand. Wie im Film. Aber irgendwann stand Frankenstein natürlich wieder auf. Wie im Film. Und Bernd dachte, sein »Stündlein hätte geschlagen.« Aber dann war es doch kein Film. Denn Frankenstein ging brav nach Hause. Aber am nächsten Tag, als Bernd gerade mit dem Auto voller Getränkekisten beim Lokal vorfuhr, stand er wieder da. Er war jetzt ein bißchen gesprächiger und sagte: »Auf dich hab ich gewartet!« Bernd sagte: »Ich hab keine Zeit jetzt, ich muß auspacken, siehste ja.« Frankenstein sagte: »Ich warte!« Seufzend begann Bernd, auszupacken. So konnte er zumindest Zeit gewinnen. Vielleicht würde ja zufällig ein Bekannter vorbeikommen. Doch niemand kam, und Frankenstein geduldete sich. Aber irgendwann fragte er, ob er mithelfen könne. »Ich dachte, der kanns schon nicht mehr erwarten!« Aber dann überlegte Schulz, daß man vielleicht ein bißchen reden könne, während des Ausladens, daß man sich vielleicht etwas näherkommen könne. Aber der Typ redete nicht. Der schwieg, bis sie endlich fertig waren. Aber dann kam er näher und sah Bernd genau in die Augen. Und sagte: »Ich möchte meine Zeche bezahlen!« Es war eine wilde Zeit, die Zeit in der Nulpe. Aber Schulz manövrierte sich durch. Jetzt ist der Surfer, den einst der Spott des Bademeisters auf dem Wannsee verfolgte, 60 Jahre alt und in 25 Minuten auf Naxos. Mit dem Surfbrett. Nicht unterzukriegen. Sechs Stunden trieb er im Sturm ans Brett geklammert auf den Wellen, als im Hafen die Fähre kenterte und die Menschen ertranken. Schulz rettete sich auf einen Felsen. Drei Tage hing er im Krankenhaus an den Schläuchen und zitterte, unterkühlt, als hätte man ihn aus dem Eis geborgen. Aber noch immer gibt es für ihn »nichts Schöneres, als mit 65 km/h über die Wellen zu segeln. Das ist einfach geil! Nur du und das Meer und der Wind ...« Denn manchmal wird es dem Kapitän auf dem Surfbrett zu laut am einst einsamen Strand. Im August ist Grigoris ausgebucht, das Restaurant voll. Im August bleibt Schulz nicht mal mehr Zeit zum Tavlispielen mit Jorgos, dem jungen Surflehrer aus Evia, der sich für den Champion des Backgammon hält. So wie alle Griechen, die darüber hinaus fest davon überzeugt sind, daß sie und nicht etwa die Türken das berühmte Brettspiel erfunden haben. Schulz ist das egal: »Spielen können sie beide nicht!« Und als Jorgos eines Tages angeschlendert kam und sagte: »Komm, ich schlag dich im Tavli!«, sagte Schulz nur: »OK! Aber wenn du verlierst, mußt du allen Surferinnen eine Woche lang erzählen, wie furchtbar du gegen mich verloren hast.« Inzwischen gibt es zwei TShirts, ein rotes und ein grünes. Auf dem grünen steht: Ich bin der Meister im Tavli, und auf dem roten: Ich kann nicht Tavli spielen. Meistens trägt Schulz das Grüne Trikot. Foto: Privat
»Weihnachten, Silvester, dann muß ich hier sein.« Denn hier wohnen die Erinnerungen, hier kriechen sie wieder aus den dunklen Schlupfwinkeln des Gedächtnisses. Erinnerungen an den Weihnachtsabend vor fünf Jahren, als Schulz im Yorckschlösschen das letzte Mal hinterm Tresen stand. Erinnerungen an dieses Mädchen, »so eine Hübsche, Wohlerzogene«, die den braungebrannten Surflehrer auf der Insel traf und plötzlich in der kleinen Wohnung in Berlin auftauchte, und die danach fragte, wo denn das Bad sei. Als Schulz sagte, »ne Treppe tiefer, auf´m Gang,«, da war sie »auch gleich wieder weg!« Oder die Erinnerung an Silvester 1972, als Schulz den Leierkasten hatte. Er hatte eine große Silvesterparty angekündigt, aber die Bands wollten alle einen Tausender für diesen Abend, »wo sie doch sonst für weniger als die Hälfte spielten«. Am Ende fand Schulz gar keine Band mehr. »Da hab ich erst mal ganz schnell drei Bier getrunken und abgewartet, was passiert. Und dann kam der Wolfgang Rügner und sagte, er hätte ne Idee!« Zwei Stunden später hörte man draußen auf der Straße Musik, da kamen die Musiker laut blasend und trommelnd und geigend durch die Straße, allen voran Rügner an der Posaune. »Die schönste Silvesterparty, an die ich mich erinnern kann!« Im März aber, wenn die ersten Zugvögel heimkehren, zieht es Schulz dann doch wieder nach Süden. Dann steht er auf der Fähre und der Mann hinter der Kaffeemaschine, der ihn kein einziges Mal angesehen hat, weil im Fernsehen gerade Panathinaikos spielt, fragt gelangweilt: »Zucker?« Das tut ihm dann gut nach all den langen und aufgeregten Nächten in Kreuzberg: diese Gelassenheit der Griechen. Der einzige, mit dem Schulz mal Streit hat, ist der alte Grigoris. Seit 27 Jahren meckert er jetzt rum. Dabei braucht er den Deutschen. Die Hälfte seiner Gäste sind Berliner! Aber auch der Deutsche braucht den Griechen, damit die Youngster gleich vom Bett aufs Brett können. Sie sind längst eine heimliche Symbiose eingegangen, der mit den Zimmern und der mit den Brettern. Also ist Schulz im März wieder da, räumt den Müll weg, den das Meer an den Golden Beach geschwemmt hat und repariert das von Wind und Wetter lädierte Bambusdach der Surfservicestation. Und wenn alles wieder startklar ist, dann freut sich sogar der alte Grigoris ein bißchen. Eigentlich mögen ihn eh alle auf der Insel. Sogar der Polizeichef von Paros begrüßt ihn lachend. Obwohl Schulz ihm schon mal richtige Sorgen bereitet hat: Schulz wollte gerade mit seinen Schülern in See stechen, da tauchte so eine riesige Yacht auf und legte sich genau in den Weg. Schulz segelte los, drehte bei und rief dem Senior und seiner Geliebten zu, er möchte sich doch bitte mit seiner Yacht wieder aufs offene Meer hinaus verziehen. Der Grieche entgegnete, daß er sich von einem Deutschen nichts sagen lasse. Das Gespräch wurde gerade spannend, da sah sich Schulz plötzlich von Polizisten umzingelt, und sein Polizeichef nahm ihn beiseite und sagte: »Bernd, jetzt haste Scheiße gebaut. Jetzt kann ich Dir auch nicht mehr helfen.« Schulz verstand sofort, daß die Sache ernst war. Daß sein Surfparadies auf dem Spiel stand. Aber wie hätte er ahnen können, daß er an den Busenfreund des griechischen Verkehrsministers geraten war, und daß die Frau an Bord Janna Angelopoulou war, die Organisatorin der olympischen Spiele. »So ein Mist!« Erst als Journalisten herausfanden, daß der Grieche seine Yacht auch vor Mykonos so ungünstig geparkt hatte, sah der Anwalt von der Anzeige wegen Mordandrohung ab. Bernd Schulz kann viele solcher Geschichten erzählen. Aus Paros oder aus Berlin. Aber langsam sind es genug Geschichten. Immer öfter steht Bernd Schulz jetzt da am Golden Beach, um den ihn die sonnensüchtigen Berliner so beneiden, und grübelt. So wie er damals hinter dem Tresen der Nulpe stand und grübelte, um sich dann ein Surfbrett zu kaufen. Manchmal träumt er von einem ganz normalen Leben, mit einer kleinen Wohnung, einem kleinen bißchen Wohlstand. Oder wenigstens so einer Kneipe wie damals, einer Kneipe wie der Nulpe oder dem Leierkasten. Er hinterm Tresen, und die alten Freunde alle davor. Ja, manchmal steht er da am Strand und murmelt in seinen grauen Seefahrerbart: »Mann Alter, jetzt hau endlich ab nach Berlin. Weil da gehörste hin.« Hans W. Korfmann |