Kreuzberger Chronik
Februar 2007 - Ausgabe 84

Die Geschichte

Sonntagsschulen in der Luisenstadt


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von Werner von Westhafen

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In Deutschland erschütterte die PisaStudie vor einiger Zeit das nationale Selbstbewußtsein. Seitdem wird panisch am Schulsystem herumlaboriert. In England scheint die Lage noch bedenklicher, wie Ergebnisse einer kürzlich erfolgten Studie des National Consumer Council belegen, wonach ein Zehnjähriger bereits 300 bis 400 Markennamen »internalisiert« hat, »zwanzig mal soviel wie Namen von Wildvögeln«. Nur etwa die Hälfte der Dreijährigen, so die Studie, »kannte ihren Nachnamen, aber sieben von zehn kannten das Mac-DonaldsLogo.« Und den Bürgern Amerikas scheinen nicht einmal mehr die in der Landessprache seit Jahrhunderten verankerten Vornamen einzufallen: »In den USA beobachtete ein Wissenschaftler, der 2.000 Sozialversicherungsakten durchforschte, den Trend, wonach immer mehr Kinder Markennamen bekommen. Er zählte 200 Mädchen mit dem Namen Armani, 26 Mädchen, die LOréal getauft wurden, sechs Jungen, die Courvoisier gerufen werden und einen, der nach dem Sportkanal ESPN benannt wurde.«

Derartige selbstverschuldete Bildungsdefizite gab es im 19. Jahrhundert nicht. Als in der Luisenstadt, dem heutigen Kreuzberg, im Jahr 1825 mit dem Ziel, »Armut und (...) Unsittlichkeit zu mindern«, der »Louisenstädtische WohlthätigkeitsVerein« gegründet wurde, war die mangelnde Bildung der Kinder allein auf die Arbeitsverhältnisse zurückzuführen. Nicht zufällig konstituierte sich der Verein im Süden Berlins, wo von 400 Kindern aus sozial schwachen Familien lediglich zwei Drittel eine Schule besuchten. Zwar existierte schon damals eine Schulpflicht für Kinder ab dem 6. Lebensjahr, doch konnten die Eltern aus den Arbeiterbezirken das Schulgeld oft nicht zahlen. Im Gegenteil: Der Verdienst des Vaters reichte zum Leben meist nicht aus, so daß viele der Kinder arbeiten mußten, um die Existenz der Familie zu sichern. Die Abendschulen, die für ältere Jungen eingerichtet worden waren, sind keine Lösung gewesen, da die Kinder lange arbeiten mußten und am Abend zu müde waren zum Lernen.

Aus diesem Grund wurde am 28. Mai 1826 die erste Armenschule in der LuisenKirchgasse Nr. 20, einer Seitenstraße der Neuen Jakobstraße, eingeweiht. Der Unterricht begann mit 36 Schülern. Schulbücher und Arbeitshefte wurden, im Gegensatz zum 21. Jahrhundert, von der Schule gestellt. Die Erfolge waren anfangs bescheiden, man war zufrieden, wenn »die unterste Abteilung« zumindest buchstabieren konnte. »Dazu kamen erste Kenntnisse im Zählen, Zahlenlesen und Addieren, wobei eingeschränkt wurde, daß die Fortschritte nicht bei allen Schülern gleichmäßig waren«. Die Schüler der »ersten Abteilung« konnten immerhin schon »ziemlich richtig« lesen  und zwar »nicht ohne Ausdruck«.

So bescheiden die ersten Resultate auch waren, so konnten doch im darauffolgenden Jahr bereits 180 Schüler gezählt werden. Mädchenklassen wurden eingerichtet, und 1929 mußte eine vierte, 1931 sogar eine fünfte Klasse in der Neuen Jakobstraße Nr. 5 gegründet werden, um die wachsende Nachfrage nach Bildung im Volk der Armen zu befriedigen. Damit die Sonntagsschulen dem Andrang standhalten konnten, versuchte die Stadt, den Verein mit der Einrichtung einer zusätzlichen Abendschule zu entlasten. Diese »Communale Abendschule« sollte die größeren und in den Sonntagsschulen bereits vorgebildeten Jungen und Mädchen weiterbilden. Allerdings konnten nicht einmal 50 % der Schüler diese Einrichtung besuchen, da die langen Arbeitszeiten das nicht erlaubten.

Dennoch konnte man schon im Jahr 1828, mit der Erweiterung des sonntäglichen Unterrichts um eine vierte Stunde, behaupten, die Kinder im gemeinschaftlichen Gesang, in Religion, Lesen, Schreiben und Rechnen zu unterrichten  also mit der sogenannten »Grundausbildung des Kleinen Mannes« auszustatten. Sogar von »fertigem Lesen« und »fertigem Schreiben« und von der »Dreisatzrechnung« ist die Rede, und die Mädchen wurden zusätzlich noch in zwei bedeutenden häuslichen Tätigkeiten unterrichtet: Stricken und Nähen.

Doch war auch die Sonntagsschule für Kinder ab dem 9. Lebensjahr, die während der Wochentage in den Fabriken arbeiten mußten, nicht für alle eine Lösung. Denn nicht selten kam es vor, daß die Kinder auch an den Sonntagen arbeiten mußten. »Es gibt Knaben, welche 4 bis 6 Sonntage hintereinander zu arbeiten gezwungen sind, wenn sie nicht die Wochenarbeit verlieren wollen«, heißt es in einem Bericht des Louisenstädtischen Wohlthätigkeits-Vereins. »Solange die Unsitte vorwaltet, daß die Drucker auf den Fabriken des Sonntags arbeiten, werden die armen Streichjungen selbst an diesem Tage nie einem Unterricht regelmäßig beiwohnen können«.

In knapp 30 Jahren besuchten 6.898 Luisenstädtische Knaben und 5.078 Luisenstädtische Mädchen die Armenschulen des Vereins. Auch den Menschen in den Armenbezirken wurde klar, daß Bildung ein Weg aus der Armut sein konnte. Dementsprechend heißt es in einem Bericht von 1833, daß von 100 Schülern durchschnittlich nicht mehr als 68 Kinder fehlten, die meisten von ihnen wegen Krankheit. Nur bei den Mädchen war die Quote etwas höher, da sie auch an den Sonntagen immer wieder häuslichen Pflichten in Küche und Kinderzimmern nachkommen mußten.

Nun erkannte auch die Oberschicht, daß der Verein gemeinnützigen Charakter hatte, Prinz August von Preußen unterstützte das Unternehmen mit jährlich 50 Talern, später sogar mit der doppelten Summe. Doch während das Anliegen des Louisenstädtischen Wohlthätigkeits-Vereins im Volk und auch im Staat Gehör fand, stieß es unter den Fabrikbesitzern der Luisenstadt auf taube Ohren. Ihr Interesse an billigen Arbeitskräften war weitaus größer als ihr Interesse am Allgemeinwohl. Trotz des gesetzlich verankerten Rechtes auf den Schulbesuch behinderten sie die Ausbildung der Kinder äußerst erfolgreich und waren dem ersten Berliner Stadtschulrat, Dr. Reichhelm, ein Dorn im Auge.

Im Rahmen einer ersten Berliner Schulreform erweiterte der Luisenstädtische Verein in Absprache mit Dr. Reichhelm sein Aufgabengebiet, kümmerte sich zunehmend um die Erfüllung der Schulpflicht im Armenviertel und nannte sich seit 1842 »Aufsichtsverein über die schulpflichtigen ArmenKinder der Louisenstadt«. Doch auch diese Maßnahmen konnten das Kräfteverhältnis zwischen Arm und Reich in der Südstadt nicht wenden. In der detaillierten Liste der Entschuldigungsgründe aus dem Jahr 1843 fehlt der Fabrikbesitzer. Offiziell blieben die Schüler, wenn nicht wegen Krankheit, dann wegen »Schuleschwänzens (117), aus geistiger Versunkenheit der Eltern oder Kinder (150), wegen Mangels an Kleidung, besonders Schuhwerk (249), wegen dringender häuslicher Beschäftigung (192)« vom Unterricht fern.

Nach dreißig Jahren erfolgreicher Arbeit beendete der Verein 1856 »mit unendlicher Traurigkeit« seine Arbeit auf dem Gebiet der Sonntagsschulen. Die finanziellen Mittel aus den Kassen des Magistrats und der immer sparsamer werdenden Sponsoren reichten nicht mehr aus, die Lehrkräfte zu bezahlen. Doch die Idee des Louisenstädtischen Wohlthätigkeits-Vereins war nicht gestorben. Im Oktober 1856 nahm sich die Stadt der Sonntagsschulen an und führte das Projekt fort.


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