Dez. 2007/Jan. 2008 - Ausgabe 93
Straßen
Die Cuvrystraße von Erwin Tichatzek |
Es sind nicht nur die Straßen in der Nähe des Viktoriaparks, deren Namen an die Helden und Generäle der Befreiungskriege erinnern. Auch fern vom Denkmal auf dem Kreuzberg gibt es Männer, in deren Biographien die Teilnahme am Krieg gegen Napoleon und die französische Unterdrückung eine Rolle spielte. Es gab eine Zeit, da gehörte es zum guten Ton, sich mit Leib und Seele fürs Vaterland einzusetzen, und jeder, der eine politische Karriere anstrebte, kam um ein paar Tage Krieg nicht herum. Auch in der Biographie des Franzosen Heinrich Andreas de Cuvry fehlt diese Notiz nicht. Zwar war de Cuvry 1812 bereits Referendar beim Kammergericht in Berlin, aber schon ein Jahr, nachdem er sich »als Freiwilliger« zu den Befreiungskriegen gemeldet und seinen Dienst fürs Vaterland absolviert hatte, wurde de Cuvry in den Berliner Magistrat berufen, dem er anschließend über 36 Jahre lang angehörte. Aus diesem Grund war es nur legitim, daß man den treuen Beamten am 27. September 1850 mit dem Titel des »Stadtältesten« ehrte, der all jenen zugesprochen wurde, die sich in kommunalen Funktionen Verdienste erworben hatten, mindestens 20 Jahre im Amt gewesen und älter als 65 Jahre waren. Eine Ehrung also, die eher den Fleißigen und Zuverlässigen als den Denkern und Reformern zuteil wurde. Doch könnte es sein, daß man Heinrich Andreas de Cuvry Unrecht täte, wollte man ihn auf den braven Beamten reduzieren. Denn in den spärlichen biographischen Hinweisen auf Leben und Wirken des Stadtältesten ist von einem »langjährigen Mitglied« und »späteren Vorsitzenden des Direktoriums« der Armenfürsorge des Berliner Magistrats die Rede«, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß sich der studierte Jurist engagiert für das Volk einsetzte. Recherchiert man die Geschichte der Berliner Armenfürsorge in der Amtszeit de Cuvrys, stellt sich jedoch heraus, daß es vor allem die privaten Initiativen der Kirchen waren, die sich aktiv mit dem Problem der Armut auseinandersetzten. Nach Jahren der Mißwirtschaft und des Krieges hatte sich der preußische Staat per Kabinettsorder vom 3. Mai 1819 der Armen entledigt und schlicht die Stadt für zuständig erklärt. Die kommunalen Politiker allerdings, unter ihnen damals auch der bereits 38jährige de Cuvry, wollten die Armen auch nicht haben. »Angesichts des riesigen Schuldenberges und der großen sozialen Not (…) war es nur verständlich, daß sich Magistrat und Stadtverordnete dagegen wehrten«, schreibt Stefan Löffler in der Berlinischen Monatszeitschrift vom September 1992. Also einigte man sich auf eine zehnjährige Übergangsphase, in der sich der Staat allmählich aus der Verantwortung stahl und die finanziellen Unterstützungen von einem Drittel auf ein Viertel der jährlich 200.000 benötigten Taler reduzierte. Die Stadt Berlin reagierte auf die staatliche Order mit der Einrichtung der »Armendirektion«. Der Vorsitzende dieses Direktoriums hieß de Cuvry und seine Arbeit hatte vornehmlich administrativen Charakter. Dem Gremium waren die sogenannten »Armenkommissionen« unterstellt, die sich, von ausschließlich ehrenamtlichen Mitarbeitern unterstützt, in den einzelnen Bezirken um die Armen kümmern sollten. In der Luisenstadt, einem der berüchtigsten Armenviertel Berlins, gab es acht solcher Kommissionen, die sich für die Armen einsetzten und 1822 immerhin 260 Taler aufbringen konnten, um 318 Mitbürger finanziell zu unterstützen. Im Gegensatz zu den Kommissionen wurden de Cuvry und seine Stadtverordneten für ihre Tätigkeiten gut entlohnt. Oft nur am Rande erwähnt blieben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreiche private Organisationen wie zum Beispiel die Blindenvereine, die Werkstätten und Arbeitsplätze für die Behinderten einrichteten. Bedeutend war auch der Luisenstädtische Wohltätigkeitsverein, der eine Sonntagsschule für die arbeitenden Kinder (vgl. Kreuzberger Chronik Nummer 84) und eine »Klein-Kinder-Bewahranstalt« finanzierte. Am renommiertesten war der »Verein gegen Armut«, der 1875 stadtweit bereits 9.883 Mitglieder zählte, die sich in der Luisenstadt mit seiner hohen Säuglingssterblichkeit, der stärksten Bevölkerungsdichte und dem geringsten Steueraufkommen, besonders stark engagierten. Am aktivsten jedoch waren die Kirchen mit ihrer Armen- und Krankenpflege zum Beispiel in der St. Thomasgemeinde oder dem evangelischen Jakobshospital in der Oranienstraße; mit dem evangelischen Frauenverein Edelweiß (ebenfalls in der Oranienstraße) für »verarmte Frauen und Mädchen besserer Stände«; oder mit dem Jerusalem-Stift in der Wrangelstraße. Darüber hinaus befand sich am Michaelkirchplatz 3 das katholische Marienstift für »stellungslose, unbescholtene Dienstmädchen«, und auch die jüdische Gemeinde leistete im heutigen Kreuzberg eine umfangreiche Armenhilfe. Neben all diesen privaten Initiativen betrieb die Stadt in der Alten Jakobstraße lediglich ein »Waisendepot« und die städtische Blindenanstalt. Obwohl also die städtischen Einrichtungen nur einen kleinen Beitrag zur Armenpflege leisteten, war der Vorsitzende der Armendirektion, der Stadtrat de Cuvry, einer jener wenigen, denen bereits zu Lebzeiten die Ehrung durch eine nach ihm benannte Straße zuteil wurde. 1852, schon zwei Jahre nach seiner Pensionierung, erhielt die Cuvrystraße seinen Namen. Wobei sich der Verdacht aufdrängt, daß sich die Nominierung womöglich weniger auf die ruhmvollen Taten de Cuvrys stützte, als auf seine umfangreichen Ländereien, die sich nicht nur von seinem Wohnsitz in der Schlesischen Straße Nummer 15 bis ans Ufer der Spree erstreckten, sondern andererseits bis zum heutigen Landwehrkanal reichten. Bereits 1828 hatte der Gutbesoldete das vorteilhafte Grundstück erworben, bis 1920 trug auch das Spreeufer seinen Namen, und die Bezeichnung »Cuvryufer« erfreut sich, obwohl längst aus den Straßenverzeichnissen verschwunden, heute noch offizieller Gültigkeit. Es ist wahrscheinlich, daß es dieser »Cuvrysche Garten« war, durch den bis dahin nur ein ungepflasterter Weg lief, der den Magistrat bewog, diesen zur Straße ausgebauten »Grünen Weg« mit dem Namen Cuvrys zu schmücken. Es war üblich, daß man jene Bürger, die einen Teil ihres Ackers für den Bau von Straßen oder Gebäuden zur Verfügung stellten, nicht nur mit Talern oder Tauschgrundstücken entlohnte. So erhielt auch die Kochstraße ihren Namen nach einem unbedeutenden und bereits 1743 verstorbenen Bäckermeister, und es dauerte 273 Jahre, bis Koch zumindest einen Teil seiner Straße für eine bedeutendere Persönlichkeit freigab. Auch ein Teil der Cuvrystraße erhielt bereits 1893 den Namen »Ratiborstraße«, und es könnte durchaus sein, daß die kleine Cuvrystraße im widerspenstigen Kiez zwischen Schlesischem Tor und Görlitzer Park einmal nach einer reformfreudigeren, vielleicht sogar ein bißchen revolutionären Persönlichkeit benannt werden wird. Erwin Tichatzek |