April 2007 - Ausgabe 86
Die Geschäfte
Candellas Verführung von Ina Winkler |
Wer morgens früh, wenn sich über die Nacht mit ihren geschlossenen Türen und Fensterläden die süßen Düfte zu einer dichten Wolke zusammengeballt haben, Candellas Ladentür öffnet, den katapultiert es auf der Stelle weit zurück in die Kindheit. Zurück in jene sonnigen Tage, als man mit ein paar graubraunen Pfennigen in der Hand frierend und tropfend in der Schlange vor dem kleinen Kiosk unweit des Schwimmbeckens stand, um dessen große Papierkörbe Wespenschwärme kreisten, und als man nach der Schule noch einmal schnell zum Bäcker oder in den Zeitungsladen lief, wo Zuckerstangen, Kaugummi, Eiscreme, Gummibärchen, Waffeln und die damals noch so harmlos klingenden Negerküsse Duftfahnen aufsteigen ließen, die den Kindern Hunderte von Metern entgegenwehte und sie sicher ans Ziel geleiteten. Nirgendwo in Kreuzberg riecht es so intensiv nach Kindheit wie bei Candella. Deshalb sind es nicht nur die Kinder von heute, die auf der Suche nach Brausekugeln, Dinoeiern, Schokozigaretten, grellbunten und überdimensionalen Lutschern, weißen Mäusen, »mampfi« Eßpapier, Sauren Würmern oder Lakritze mehr oder weniger schüchtern und vorsichtig, als beträten sie ein verbotenes Reich, durch die Tür kommen. Oft sind es die Kinder von gestern, die hereinkommen und nachdenklich vor den Trüffeln stehenbleiben, den Haselnußtrüffeln, den Zitronentrüffeln, den Vanilletrüffeln, den Mandeltrüffeln, den Rumtrüffeln, den Chilitrüffeln. Manchmal haben sie längst selbst Kinder an der Hand, manchmal nehmen die Frauen ihre Freundinnen mit. Sie kommen oft zu zweit, die Frauen, als wäre das Kaufen von Schokolade etwas Intimes, als trauten sie sich alleine nicht, der süßen Verführung nachzugeben. Foto: Dieter Peters
Auch mit in Schokolade gegossenen Präsenten befreit Ursula Paesch gepeinigte Männerseelen vor Weihnachten, Valentinstagen und Muttertagen aus der Vorhölle. Aufatmend kaschieren die Männer die phantasielosen Euroscheine mit dem süßen Kakaoguß, andere verpacken Foto: Dieter Peters
»Manchmal glaube ich, daß das Verpacken in diesem Geschäft das Wichtigste ist!« Egal, ob es sich nun um die hübschen Belgischen Pralinen, ein innovatives Lebkuchenherz oder die selbstgemachten Trüffel handelt, die längst Kult sind in der näheren Umgebung. Es gibt sogar Kinder, die am pinkfarbenen und süßduftenden Zucker-Kaugummi-Lutscher-Regal vorbeischlendern und schnurstracks auf die braunen, handgerollten, nie ganz runden Kugeln zugehen. Nur die selbstgebrannten Mandeln können den Trüffeln das Wasser reichen, vor allem im Winter, wenn Ursula Paesch beim Rösten die Tür öffnet und dieser vorweihnachtliche Geruch die Straße hinunterzieht. Dann kommen sie manchmal scharenweise von draußen herein. Die Zuckerbäckerin kann das gut verstehen. Sie stand schon als Mädchen auf den Weihnachtsmärkten und röstete Mandeln, wenn sie sich neben der Schule etwas dazuverdienen wollte. Das Kandieren ist nicht leicht, man braucht ein gutes Gespür für die Hitze, die Zeit, für die Art der Mandeln und die Menge des Zuckers. In Sekunden kann alles schwarz sein, in Sekunden sind die süßen Kerne bitter. Wenn sie aber gut geröstet sind, dann bleiben die Mandeln weich, dann ist selbst der Zuckerguß kein Risiko mehr für wacklige Zahnkronen und lockere Amalgamfüllungen. Gut geröstete Mandeln sind etwas ganz Wunderbares. Deshalb hat sich der Geruch goldbraunglänzender Mandeln seitdem nie ganz verflüchtigt, er hat Ursula Paesch zeitlebens begleitet. Und als sie dann, viele Jahre später – nachdem sie die Schule beendet und Stadtmöbel verkauft hatte, Parkbänke, Poller und Fahrradständer; nachdem sie Kataloge angefertigt und einen Papierkorb entworfen hatte, den die »Stiftung Preußische Schlösser« den Entwürfen professioneller Designer vorzog und in Produktion gehen ließ; nachdem sie ihre Tochter großgezogen und der mißtrauische Chef sie eines Tages gefragt hatte: »Was machen Sie eigentlich nach 17 Uhr noch für Geschäfte?«, und als sie nach all dem endlich kündigte – da stieg ihr der Geruch der gebrannten Mandeln wieder in die Nase. Und weil sie irgendetwas tun mußte, weil sie nicht tatenlos dasitzen konnte, mietete sie das leere Geschäft in der Friesenstraße, begann wieder mit dem Rösten von Mandeln und schrieb über die Ladentür: Candella – was ein bißchen nach »Kandieren« klingt. Und ein bißchen nach »Kanella«: gr. f. Zimt. Gebrannte Mandeln und Trüffel gibt es bei Candella das ganze Jahr über. Aber die belgischen Pralinen mit den süßen gelben Küken gehören zum Ostersortiment. Auch in der Auslage ist es österlich, da liegen die unsterblichen, mit Küken und Hasen und Blumen bemalten Pappeier, die nur darauf zu warten scheinen, an Ostern endlich aufzuklappen wie das Ei des Urmel. Randvoll sind sie mit Süßem, mit den unsterblichen, kleinen, pastellfarbenen Zuckereiern, mit Schokoladenosterhasen, mit den Ostereiern, den Mai- und Junikäfern, den Marzipanenten, kurz: mit all den geheimnisvollen, österlichen Süßigkeiten im papiernen Ostergras. Das alles gibt es auch anderswo an diesen Tagen – aber nirgends duftet es so nach Kindheit wie in dem kleinen Laden in der Friesenstraße. Ina Winkler |