Oktober 2006 - Ausgabe 81
Die Literatur
Zu spät von Gerhard Tenzer |
Mit dem Vorsatz, nicht zu spät sie zu treffen zu dem date tritt er schon früh vorn Spiegel hin und reibt sich prüfend übers Kinn. Ein paar Tropfen pre shave nur dann erfolgt die Naßrasur sodann nach Fichtennadelbad, damit die Haut geschmeidig glatt, wird nun der Körper eingeölt und fühlt sich frisch undneu gestählt. Was er erblickt im Spiegelglas: Das ist doch Wer, der ist doch was! Er prüft sein Antlitz, tatscht die Wang, die Augen sprühn vor Tatendrang, und überhaupt und mit Genuß sieht er nen Kerl aus einem Guß. Und wär er nicht jetzt gleich verschrieben, er könnt sich glatt in sich verlieben, wie er da steht so frisch gespült und locker mit den Muskeln spielt. Dazu probiert er ganz verzückt wie man lieb, doch männlich blickt. Und auch dann wie es sich macht, wenn man herzgewinnend lacht. Doch jetzt wirds Zeit, er muß noch lernen, vom Spiegelbild sich zu entfernen. Greift zum Hemd und der Krawatte, die er bereits schon liegen hatte, zieht an die Hose, frisch gebügelt, dazu die Schuhe, blank gestriegelt, genauso glänzt jetzt die Frisur, dank El Vital Spezialtinktur. Schneidet nun vom Bart die Spitzen, prüft, daß die Manschetten sitzen, korrigiert noch dies und das, sprüht sich mit nem Düftchen naß, eh er dann im ruhigen Ton sagt: na denn, sie wartet schon! Ein letztes Mal wirft er den Blick auf sein geliebtes Ich zurück, und schreitet dann mit frohem Sinn erwartungsvoll zum Treffpunkt hin. Angekommen hört er mit Schreck: »Ihr wurds zu spät, jetzt ist sie weg!« Entnommen aus Gerhard Tenzer, Gedichte, 2001, limitierte Ausgabe, Bestellung unter Telefon (030) 78 09 55 58 |