Kreuzberger Chronik
Oktober 2006 - Ausgabe 81

Herr D.

Herr D. hat keine Idee


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von Hans W. Korfmann

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Herr D. hatte ein Problem mit der Wohnzimmereinrichtung. Aber ihm kam einfach keine rettende Idee. Doch kaum war er aus dem Haus getreten, da packte ihn jemand am Arm. »He, Achim! Du hier?« Herr D. hieß zwar nicht Achim, aber das konnte schließlich schnell passieren, daß einer, nach so vielen Jahren, den Namen vergaß. »Wie hats denn dich hierher verschlagen, ausgerechnet nach Berlin, Mann, Achim, das hätte ich nicht gedacht, daß ich dich noch mal treffe...«

Herr D. stand da und durchstöberte sein komplettes Gedächtnis. Er ging zurück bis in die Sandkastenjahre, aber er fand keinen passenden Namen zu diesem Gesicht. Vielleicht lag es an dem langen Bart, oder an den alten Schuhen. Aber selbst, als der Namenlose plötzlich Erwin erwähnte, »Mann, und Erwin, erinnerst du dich noch, Erwin mit dem Kaugummi...«, kam Herr D. der Vergangenheit nicht auf die Spur. Und je mehr der andere erzählte  von der dicken Uschi, von dem dünnen Mathematikreferendar, von der Abiturfeier  je mehr sich der andere erinnerte, um so mehr schämte sich Herr D. Und um so größer wurde sein schlechtes Gewissen: Wie hatte er diesen alten Schulfreund nur so restlos vergessen können?

Deshalb nickte Herr D. auch heftig, als der Schulkamerad plötzlich meinte, sie könnten sich doch verabreden, nächsten Freitag vielleicht, gleich da hinten in der Eckkneipe. Um ein bißchen über die alten Zeiten zu plaudern. Aber jetzt hätte er es ziemlich eilig, er müsse zum Bezirksamt, und das liege ja seit der Bezirksfusion im fernen Friedrichshain, und er sei zu Fuß, weil er das Geld auf dem Küchentisch vergessen hatte, und die Kontrollen in der U-Bahn würden ja immer massiver. Sofort fingerte Herr D. ein paar Münzen aus der Jackentasche. »Aber du,«, fing Herr D. noch einmal an, »um ehrlich zu sein: Mir fällt dein Name nicht mehr ein.«  »Macht nix«, sagte der andere, »passiert mir auch öfters. Ich bin Jochen, wir haben in Geo nebeneinander gesessen...« Und dann war er weg.

Doch einige Tage später, Herr D. saß in der Enoteka Bacco und trank den leckersten Espresso der Bergmannstraße, da sah er Jochen wieder. Er sah nicht gut aus. Er hatte schon das letzte Mal ein bißchen heruntergekommen ausgesehen, der alte Freund, aber jetzt röchelte er wie ein Asthmatiker. Langsam ging er an den vollbesetzten Tischen vorüber und hielt dabei immer wieder die Nase über eine Spraydose, aus der nichts mehr herauskam. Dabei röchelte er »leer, leer« und deutete mit ausgestrecktem Arm auf die gegenüberliegende Apotheke. Der Platz war ideal, augenblicklich begannen die Frauen in ihren Handtaschen zu kramen, die Männer griffen nach ihren Jacken.

»Hallo Jochen!«, sagte Herr D. Jochen sah ihn an. »Hallo Achim!« Er setzte sich. »Jajaja, ist nicht leicht heute. Man muß sich schon was einfallen lassen, egal, in welchem Gewerbe man tätig ist. Nen Pappdeckel aufstellen oder ein Bein nachziehen, das hilft heute nix mehr. Man braucht Ideen!«  »Das stimmt«, sagte Herr D., der noch immer keine Idee für sein Wohnzimmer hatte. Jochen packte die Münzen aus seinen Taschen und begann, fünf bis zehn Zentimeter hohe Türmchen aus Zwanzigern, Fünfzigern und Eurostücken zu bauen. Herr D. schätzte die Summe auf 50 Euro.

»Und, machst Du jetzt Feierabend«  »Vielleicht«, sagte Jochen, strich das Geld wieder ein und erhob sich. »Ich hab da ne neue Nummer, die ich noch einstudieren muß.« Dann zog er davon. Mit seiner neuen Idee. Grußlos. Die haben auch ihren Stolz da am Rand, dachte Herr D., und blieb wieder beschämt zurück. Nicht, weil ihm ein Name entfallen war, sondern weil er sich plötzlich unwohl fühlte in dieser satten und ideenlosen Mitte der Gesellschaft.


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