Kreuzberger Chronik
November 2006 - Ausgabe 82

Das Essen

Kreuzberger Imbisse (3):
Die Bulette



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von Hans W. Korfmann

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Zum Abschluß, meine Lieben« sagte der Reiseleiter, der gerade mit 20 Rentnern aus einem Reisebus mit Münchner Kennzeichen gestiegen war, um ihnen das berühmte Kreuzberger Pflaster zu zeigen, »werde ich Euch DAS kulinarische Highlight Berlins vorstellen.«

Die Rentner machten ein Gesicht, als hätten sie an diesem Morgen schon zu viele Superlative gehört. »Was, glauben Sie, ist diese Berliner Spezialität?« Die einen murmelten etwas von Currywurst, die anderen favorisierten Eisbein mit Sauerkraut, aber natürlich wußte es der Fremdenführer wieder besser. »Neineinein, meine Herrschaften, es ist nicht die Currywurst und nicht das Eisbein. Es ist die Bulette!«
»Bulette?«, murmelten die Rentner.
»Sie wissen nicht, was das ist? Ich werde es Ihnen erklären. Es gibt auf der ganzen Welt etwas ähnliches, in Amerika nennt man es Beefsteak oder Burger, in Griechenland Keftedes, und bei uns in Bayern sind’s die ›Fleischlaberl‹. Aber die Fleischlaberl sind kein Vergleich. Die Berliner Buletten sind ganz etwas anderes als unsere duftenden, appetitlich braun gebackenen Fleischleibchen mit frischem Kartoffelpürree und Erbsen und Salat und einem ordentlichen Glas Bier dazu. Die Berliner Bulette ist meistens schwarz verbrannt und erinnert eher an ein Stück Kohle als an etwas Eßbares. Garniert wird der schwarze Kloß mit einem Tupfer Senf, einer gummiartigen Scheibe geschmacklosen Toastbrotes und einer sogenannten Delikateßgurke, die einige Zeit in einer Brühe aus billigem Essig und Senfkörnern liegen mußte, bevor sie all ihres Charakters beraubt unzerkaut den gierigen Schlund eines bulligen Vorarbeiters herunterrutscht. Buletten, das ist eine undefinierbare Masse aus grauem Fleisch und Brötchen, die auf der Speisekarte jeder echtberliner Kneipe vertreten ist. Buletten, das ist so eine Art Eignungstest für Berlinbesucher. Wer die schafft, der darf den berühmten amerikanischen Satz sagen: Ick bin ein Berliner!!«

Zwei der Rentner lachten jetzt doch. Die anderen sahen aus, als würden sie diese Kneipe mit den vergilbten Vorhängen lieber erst gar nicht betreten. Auch der Mann am Tresen machte den Eindruck, als könnte er auf die Truppe aus dem Altersheim verzichten. Erst, als am Ende der Rentnerschlange der Reiseleiter auftauchte, veränderte sich der Gesichtsausdruck des Kneipiers. Die beiden Männer gingen aufeinander zu, reichten sich die Hand, und dann fragte der Wirt: »Wie immer?«

»Wie immer«, antwortete der Reiseleiter.

Die Rentner setzten sich artig wie die Erstklässler an die ihnen zugewiesenen Tische und erwarteten voller Spannung die Mahlzeit. Schweigend nahmen sie ihre Teller in Empfang, als der Wirt die ersten dunkelbraunen Fleischklopse an den Tisch brachte – garniert mit eisgekühltem Kartoffelsalat, weil »das Toastbrot ausgegangen ist.« Zaghaft stachen sie in das Fleisch vom Schwein, brav aßen sie zwei oder drei Gabeln davon und hörten zu, wie der Reiseführer erzählte, daß sie früher aus Pferdefleisch gemacht wurden, aus lahmen und kranken Gäulen. Ein Armeleuteessen seien die Buletten gewesen, kein Mensch habe gewußt, was da so alles drin gewesen wäre. Heute aber seien Buletten eine echte Spezialität.

»Darf ich abräumen?«, fragte der Wirt, die Rentner nickten erleichtert. »Wie immer!«, sagte der Wirt und überlegte, ob er dieses Leben an der dunklen Straßenecke hinter den vergilbten Gardinen nicht doch vielleicht aufgeben sollte.

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