Mai 2006 - Ausgabe 77
Die Literatur
Andrea will kochen von Nils Heinrich |
Neulich war ich mal wieder gezwungen, Andrea zu besuchen. Wir sind zum Essen bei ihr verabredet. Sie wohnt am Hermannplatz in Neukölln. Wenn man dort aus der U-Bahn kommt, läuft einem als erstes entweder ein Polizist über den Weg oder aber ein Mensch, der stehen bleibt, sich ranbeugt und »Haschisch, Haschisch« flüstert. Außerdem ist es am Hermannplatz immer grau. Selbst wenn die Sonne scheint, ist es auf diesem Platz grau. Denn der Hermannplatz ist ein Berliner Platz, der wie jeder Berliner meistens scheiße drauf ist. Wenn die Sonne scheint, ruft der Hermannplatz ihr zu: »Verpiss dich! Lass mich in Ruhe! Wat kiekste mir an? Willste n paar uffe Fresse?« Daher liegt selbst bei wolkenlosem Himmel immer ein dunkler, grauer Schatten über dem Hermannplatz, der die Sonne vor dem unansehnlichen Anblick dieses brutalen Stückes Großstadt schützt. Da die Sonne bekanntlich nicht über ein Geruchsorgan verfügt, bleibt ihr auch das olfaktorische Erscheinungsbild des Hermannplatzes erspart. Der Hermannplatz riecht ständig nach Pisse. Selbst bei Regen. Und selbst, wenn er mal nicht nach Pisse riecht, braucht man den Hermannplatz nur angucken, und es entsteht tief drinnen in der Nase sofort eine Art Pawlowscher Pisse-Reflex, und es riecht wieder nach Pisse. Wendet man die Nase leicht zur Seite, weiß man warum. Der Pissegeruch am Hermannplatz kommt aus einer der größten öffentlichen Toiletten Berlins. Diese wiederum besteht aus sämtlichen Hauseingängen und Toreinfahrten der Hauszeile gegenüber des Karstadt-Warenhauses. Es sind Männer wie du und ich, die dort, im Stehen konzentriert auf die Türspalte der Haustüren zielend, ihr Wasser abschlagen. Und diese Männer kommen aus der Mitte der Gesellschaft, wie Gerti beobachtet hat. Gerti ist aus Hamburg, war ein Wochenende lang bei Andrea zu Besuch und hat schnell rausgefunden, warum es nicht nur auf dem Hermannplatz nach Pisse riecht, sondern auch im Eingang des Hauses, in dem Andrea wohnt. »Ey, stell dir vor, da ist eben einer in aller Seelenruhe aus seinem BMW gestiegen, hat die Tür zugeschlossen, ist zur Einfahrt vom Haus gegangen und hat in aller Ruhe vor meinen Augen in den Hauseingang gepisst. Es ist ja nicht so, dass ich das nicht kenne. Bei mir in Hamburg, in der Schanzenstraße, ist das ein normales Bild. Wenn sich da die Junkies nicht mehr in den Hauseingängen ihren Stoff aufkochen oder gegen die Häuser pinkeln, dann muss die Welt schwer aus den Fugen geraten sein. Aber, das sind ja auch Junkies. Aber hier in Berlin, da pissen die BMW-Fahrer an die Wände! Das ist doch krank!« Nee, dit is nich krank, dit is Berlin! Hermannplatz! Hilft nichts, muss man durch, in das Haus, durch den Flur, der vom Geruch her ein Teil der Berliner Kanalisation sein könnte. Dann kommt man in den Flur vom Gartenhaus, und an der Stelle, wo an der Wand der Hinweis steht »Hylia is häslich!« biegt man leicht nach rechts ab und steigt die Treppen empor in den vierten Stock, wo Andreas kleine Butze ist. Alle Türen in diesem Haus sind schon mal aufgebrochen worden. Das sieht man am gesplitterten Holz in Höhe des Türschlosses und an den Löchern, die einst für die Halterungen der Vorhängeschlösser gebohrt wurden, bevor diese auch aufgebrochen wurden. In Andreas Wohnung lohnt es sich nicht, einzubrechen. Das einzig wertvolle Inventar der Küche ist eine halbvolle Flasche Weißwein, die ihre Metamorphose zu Weinessig fast abgeschlossen hat. Nils Heinrich, »Andrea will kochen«, entnommen aus der Anthologie: »Provinz Berlin«, Satyr Verlag, 12,90 Euro, ISBN: 393862504X |