Kreuzberger Chronik
Mai 2006 - Ausgabe 77

Essen, Trinken, Rauchen

Kreuzberg kocht


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von Jörg Armbruster

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Man kann natürlich überall etwas essen. Vorausgesetzt, man hat das Geld dazu. Im nachbarlichen Schöneberg etwa, das so viel von sich hält. Oder in Mitte oder Prenzlberg, diesen alten Newcomern. Man kann natürlich auch in Reinickendorf oder im Wedding essen. Satt wird man immer. Aber da, wo der Mensch ein besserer ist, da ißt er auch besser.

Und der Kreuzberger ist nun einmal der bessere Mensch. Zwar bemühen sich seit der Wende auch andere Berliner Bezirke, ihr kulinarisches Image aufzuwerten, doch noch immer beherrschen Italiener, Griechen und Spanier den Prenzlberg oder den neuen Nobelbezirk mit dem unpoetischen Namen »Mitte«. Die wirkliche Mitte, der Nabel der gastronomischen Berliner Welt, ist und bleibt Kreuzberg. Das zeigt sich auch dann, wenn die besten Köche des Bezirks einmal im Jahr ihre Zelte auf dem Chamissoplatz aufschlagen und für geringe Unkostenbeiträge Kostproben ihrer Kochkunst anbieten.

Was die Grüne Woche für die Deutschen ist, das ist Kreuzberg für die Berliner: Da findet sich auf wenigen Quadratkilometern die komplette irdische Speisekarte, ein wahrer Garten Eden im statistisch zweitärmsten Bezirk Berlins. Eine Runde durch Kreuzbergs Lokale ist eine kulinarische Weltreise: Es gibt Indisches, Chinesisches, Thailändisches, Tibetanisches und Äthiopisches, es gibt österreichische Knödeln und deutsche Schnitzeln, es gibt norddeutsche Heringe und Süddeutsche Forellen. Es gibt eine gehobene deutsche Küche und eine traditionelle mit Kartoffelpuffern und Currywurst, Eisbein und Sauerkraut. Ganz zu schweigen von den unzähligen türkischen, italienischen und griechischen Lokalen, japanischen Sushirestaurants und südamerikanischen Maisfladenverkäufern. Sogar Engländer und Amerikaner haben einen Fuß auf Kreuzbergs politisch korrekten Boden bringen können, in der Yorckstraße gab es zwei Jahre lang die berühmt-berüchtigten Fish & Chips, und ein amerikanischer Bulettenverkäufer gegenüber war eine Zeitlang Treffpunkt für die gegen Müsli und Körnerfraß revoltierenden Kids der Altachtundsechziger geworden. Und wenn im Juni beim Jazzfest »Kreuzberg kocht«, dann rücken die Welten noch etwas dichter zusammen, dann präsentiert sich internationale Küche auf wenigen Metern.

Doch die Kreuzberger gehen nicht nur in ihren Lokalen essen, sie kochen auch gerne selbst. Natürlich kocht man auch in der Küche im zweiten Stock im Wedding oder in Reinickendorf gerne, aber in Kreuzberg kocht man eben besonders gerne. Und besonders gesund. Am Wochenende, wenn die Kreuzbergerinnen und Kreuzberger auch bei 5 Grad Plus noch in Sandalen und dicken Wollsocken über den Wochenmarkt am Chamissoplatz wandeln, um von alternativen Bauern des Umlandes gesunde Möhrchen, kleine Kartöffelchen oder winzige Tomätchen zu kaufen, zeigt sich, wie ernst der Kreuzberger doch die Ernährung nimmt. Und daß man sich die politisch korrekte Tierhaltung und die menschengerechte Ernährung sogar im zweitärmsten Bezirk der Stadt auch dann noch etwas kosten läßt, wenn man schon nichts mehr in der Tasche hat. Ganz anders als die feinen Damen, die am Wochenende durch die Marheinekehalle flanieren, von diesem Käse ein bißchen kosten möchten und von jenem, die sündhaftgute und -teure französische Hähnchen am Geflügelstand oder frischen Thunfisch beim Fischhändler kaufen. Aber so, wie der Kreuzberger ißt, so ist er eben auch: immer ein kleines bißchen besser als der Weddinger oder der Reinickendorfer, oder diese Youngster vom Prenzlberg.

Jörg Armbruster

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