März 2006 - Ausgabe 75
Strassen, Häuser, Höfe
Die Görlitzer Straße von Werner von Westhafen |
Das Örtchen Görlitz, das als »villa gorelic« erstmals in der Geschichtsschreibung auftauchte, galt schon im Mittelalter als ein Verkehrsknotenpunkt auf dem Weg nach Osten, und so machte sich der Ort zunächst als Nachtquartier für kriegerische Truppen einen Namen. Allmählich aber begann sich Industrie anzusiedeln, und als die Stadt vom Königreich Sachsen an Preußen ging, stieg die Einwohnerzahl gleich ums Zehnfache. Die Tuchfabriken am Ufer der Neiße, deren Strömung die Maschinen antrieb, die Wollspinnereien, die vielen Handwerksbetriebe und die Wagenfabrik von Christoph Lüders hatten das Interesse des Eisenbahnkönigs an der Stadt Görlitz geweckt. Bis heute ist die Firma einer der wichtigsten Arbeitgeber in der Stadt. Wieder einmal bewies Barthel Henry Strousberg die Weitsichtigkeit des »Kapitalisten per Exelence« (Karl Marx), der bei der Planung seines Projektes einer Eisenbahnlinie mehr berücksichtigte als nur Bedarf und Nachfrage. Kaum war die Grenzstadt Görlitz 1847 an das preußische und an das sächsische Eisenbahnnetz angeschlossen und durch die Schienenstränge mit dem Rest der europäischen Welt verbunden entwickelte sich der Görlitzer Wagenbauer zum Waggonbauer. Die Einwohnerzahl stieg noch einmal von 30.000 auf 80.000, und Görlitz wurde »nach dem Urteil von Zeitgenossen zur anmutigsten und charaktervollsten Provinzstadt Deutschlands.« Im nächsten Jahrhundert erhielt Görlitz sein städtisches Krankenhaus, die Stadthalle als Austragungsort des Schlesischen Musikfestes, und 1925 sogar einen Flugplatz. >Der 2. Weltkrieg geht an Görlitz mit seinem mittelalterlichen Kern und den prunkvollen Häuserfronten noch beinahe spurlos vorüber, doch als die abziehenden deutschen Truppen alle Neißebrücken in die Luft sprengen, wendet sich das Blatt. Wenige Monate später wird bei den Potsdamer Verhandlungen die Neiße offiziell zum Grenzfluß ernannt, der die Stadt in einen polnischen Sektor (Zgorzelec) einerseits und einen deutschen Sektor andererseits der Neiße teilt. Doch der Fall der Mauer in Berlin ändert auch die Sicht auf Görlitz, der nahende Beitritt Polens zur Union Europas läßt die Getrennten wieder näher aufeinanderzurücken. 1995 vertritt Görlitz die Bundesrepublik Deutschland bei der »Histeuro 95« in Luxemburg, zwei Jahre später wird sie »Eine Stadt zwei Nationen« für die Förderung des Europagedankens ausgezeichnet. Obwohl es ihr dabei weniger um Europa, als vielmehr um ein eigenes Interesse ging: die Wiedervereinigung. Denn seit der großen Wende leidet auch Görlitz am Bevölkerungsschwund: Ein Drittel der Bevölkerung ist abgewandert, doch »Fleiß, Zähigkeit und Heimattreue der Bevölkerung«, so die Internetpräsentation der Stadt, »sorgten dafür, dass es zu keinem völligen Zusammenbruch der Wirtschaftskraft, der Bausubstanz und der Kultur kommen konnte.« 2004 schließlich wurde die geteilte Stadt gemeinsam mit Essen zum Vertreter Deutschlands beim Wettbewerb um den Titel der »Kulturhauptstadt Europas 2010« gewählt. Görlitz wäre nach Berlin und Weimar die dritte deutsche Stadt, die mit der begehrten Auszeichnung geehrt wird. Foto: Archiv Hans Firzlaff
Abgesehen von den mittelalterlichen Relikten und dem Schlesischen Musikfest ist die Görlitzer Kultur jedoch kaum über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt geworden. Görlitz blieb stets ein praktisch veranlagtes Provinzstädtchen. Es dauerte 100 Jahre, bis Gutenbergs Erfindung »auch in Görlitz heimisch« wurde und bis sich der Drucker Ambrosius Fritsch in der Stadt niederließ, um zuerst einmal den Katechismus und die Schulordnung zu drucken. Auch die Kirche gehörte zu seinen Kunden und ließ »mancherlei Flugschriften herstellen, in denen man gegen die Calvinisten zu Felde zog. Das brachte dem Drucker Geld, aber auch Ärger mit der Zensur.« Es störte den Kaiser, daß »in Städten, Märkten, auch sonsten anderen Orten allerlei schändliche Bilder und aufrührerische Traktätel umgetragen, verkauft und unter die Leute ausgebreitet werden«, weshalb die Görlitzer ihren Drucker Ambrosius erst einmal ins Gefängnis beförderten. Doch auch danach nahm Fritsch jeden bezahlten Auftrag an, veröffentlichte Spottgedichte über »Trunkenheit, Vollsäuferei und säuische Völlerei« im Nachbardorf und andere »skandalöse Schmäschriften«, bis er endlich den Kalender des Bartholomäus Scultetus unter dem Titel »Almanach und Schreibkalender des Jahres Nach Geburt Christi 1568 durch Magister Bartholomäus Scultetus, der mathematischen Künste besonderen Liebhaber; zu Görlitz druckts Ambrosius Fritsch« herausgibt. Von da an druckt er kunstvolle Bände mit Initialen und Figuren, deren Vorlagen er von Formenschneidern und Goldschmieden herstellen läßt, und die noch heute erhalten sind und ihn als Meister der »Schwarzen Kunst« auszeichnen. Nicht schwarz auf weiß, sondern mündlich tradiert sind die zahlreichen Sagen von Görlitz. Eine der schönsten erzählt von einem dreibeinigen Hund. »Wo heute in der Altstadt die Büttnerstraße in die HugoKellerStraße mündet, gab es noch vor 150 Jahren ein Abzugsloch für Tau und Regenwasser. Man nannte es das Hundeloch, und sogar der Bäcker, der dort wohnte, wurde seinen Namen Hundebäcker nicht mehr los. Das hing mit der Sage vom dreibeinigen Hund zusammen.« Er war etwa so groß wie ein Kalb, hatte glühende Augen und ein zotteliges Fell. Einmal im Jahr, in der Weihnachtsnacht, entstieg er einem Wasserloch, durchquerte die Stadt und verschwand wieder. Die Stadtsoldaten hielten das Tor in der Nacht geöffnet, damit der Hund ungehindert seines Weges gehen konnte. »Nun gab es in einem Jahre unter ihnen einen draufgängerischen Heißsporn, der es mit Tod und Teufel aufzunehmen gedachte« und das Tor verschloß. Der riesige, dreibeinige Hund aber übersprang das hohe Tor. »Die Wachsoldaten wurden durch ein lautes Schnauben und Poltern aufgeschreckt, und als es wieder still geworden war, liefen sie zu dem großsprecherischen Heldenanwärter hinaus. Der war ohnmächtig neben dem Schilderhause zusammengesunken. Seine Flinte war hin, ihren Lauf mußte jemand zusammengedreht haben wie zu einer Schraube. Der Soldat kam bald wieder zu sich, aber sein Gedächtnis hatte gelitten. Drei Wochen darauf soll er gestorben sein. Seitdem hat sich keiner mehr mit dem dreibeinigen Hund angelegt.« Werner von Westhafen Literaturnachweis: Dr. Ernst Kretzschmar, Die Sagen von Görlitz, Homepage der Stadt Görlitz. |