März 2006 - Ausgabe 75
Die Geschichte
Der Görlitzer Bahnhof - Teil 1 von Werner von Westhafen |
Der große Kahlschlag in den siebziger Jahren forderte viele Opfer. Eines davon war der Görlitzer Bahnhof. Obwohl noch gut erhalten, wurde das stattliche Bahnhofsgebäude mit zwei Türmen, Räumen für den königlichen Hof und loggienartigen Freigeschossen, dreiklassigen Wartesälen und einem Bahnhofsrestaurant 1975 dem Erdboden gleichgemacht. Im Antrag heißt es, daß die Gebäude leerstünden, und weiter: »Es besteht die Gefahr, daß sie einen Unterschlupf für asoziale Elemente bieten. Die Beseitigung dieser Ruine (...) wird dazu beitragen, das Westberliner Stadtbild weiter zu verbessern.« Anders als beim Anhalter Bahnhof mit seinen hoch in den Himmel ragenden Relikten erinnern im Görlitzer Park nur noch zwei Güterschuppen und ein Bürogebäude an die Endstation der Bahnlinie nach Görlitz, die wie kaum eine andere Linie das Leben in der Stadt verändert hatte. Hier kamen Menschen, Tiere, Kartoffeln, Gemüse und die Spreewaldgurken an. Görlitz war eine Industriestadt; Tuchfabriken, Ziegeleien und Glashütten lagen an der Strecke. Außerdem führten die Schienenstränge geradewegs ins Lausitzer Kohlegebiet, der Umsatz an Briketts aus der Lausitz verdoppelte sich, und um den Bahnhof mit seinen 56 Gleisen, 86 Weichen, 18 Signalen und drei Stellwerken siedelten sich schon bald die Berliner Kohlenhändler an. Auch die Fleischer und die Gemüseverkäufer suchten die Nähe zu den Gleisen, selbst das Militär baute seine Kasernen in der Nähe des Bahnhofs, und schon 1866 starteten Soldaten aus den Kasernen in der Wrangelstraße mit dem Zug in den Krieg. Der Görlitzer Bahnhof in Glanzeiten
Doch auch die zivile Bevölkerung schätzte den Bahnhof. Bereits wenige Monate nach Inbetriebnahme der Strecke verzeichnete man 70.000 Fahrgäste täglich, 1880 waren es insgesamt 1,5 Millionen, die vom Görlitzer Bahnhof nach Wien oder Hamburg, nach Görlitz oder in den Spreewald fuhren. Die Straßen, die um den Bahnhof entstanden, gehörten mit ihren Geschäften und Cafés schon bald zu den lebendigsten der Stadt. Im Bahnhofsgebäude mietete sich die »StadtPostExpedition Nr. 36« ein, die dem Bezirk später ihren Namen gab: Kreuzberg 36. Bis heute, so formuliert es Emil Galli in einem 1994 erschienenen Bildband über den alten Bahnhof und den neuen Park, »schwebt die Zahl 36 als lokalmythologische Chiffre in den Wolken eines Kreuzberger Geistes«. Begonnen hat die Geschichte des »Görli« mit dem sagenhaften Eisenbahnkönig (vgl. Kreuzberger Chronik v. Juli 2002) und seiner Idee von einer Strecke nach Görlitz. Strousberg plante und baute sie sozusagen im Alleingang. Finanziert wurde der Bau durch Aktien eine Idee, die Strousberg aus dem Ausland importiert hatte. Den Bahnhof baute er nicht im Herzen der Stadt, sondern jenseits der Stadtmauern auf dem »Köpenicker Feld Außerhalb«, das im Gegensatz zum Feld innerhalb der Stadtmauer noch immer nicht bebaut war. Auf alten Fotografien stehen nur vereinzelt Bauernhäuser mit großen Gärten und eine Windmühle vor den Fabrikschornsteinen am damaligen Stadtrand. Um wuchernde Preise der Landbesitzer zu umgehen, die ahnten, daß die Stadt über die Mauer hinauswachsen würde, kaufte Strousbergs Berlin-Görlitzer-Eisenbahngesellschaft die Felder heimlich über Strohmänner, und 1864 beauftragte er August Orth mit dem Bau des Bahnhofsgebäudes. Der Stadtplaner James Hobrecht hatte sechs Jahre zuvor die von Lenné erstellten Baupläne überarbeitet und die Straßen der Luisenstadt über den steinernen Schutzwall hinaus verlängert. Die neuen Straßen erhielten zunächst Nummern und Buchstaben, aber als der Bahnhof stand, hielt das Leben Einzug. Aus der Oranienstraße wurde zunächst die Verlängerte Oranienstraße, später dann die Wiener Straße. Die verlängerte Ritterstraße wurde zur Reichenberger Straße und die Waldemarstraße ging in die Görlitzer Straße über. Der Görlitzer Bahnhof selbst wurde zum Zentrum eines neuen Stadtviertels, und viele Straßen um das Zentrum erhielten ihren Namen nach jenen Städten, in deren Richtung sie führten. Der Bahnhofsvorplatz aber wurde nach dem beliebtesten Ausflugsziel der Berliner benannt: dem Spreewald. Anders als bei der Anhalter oder der Potsdamer Bahn, überquerten die Züge der »Görlitzer« die Kanäle und die großen Straßen nicht mehr auf Drehbrücken und mittels Schrankenanlagen, die den Verkehrsfluß stoppten, sondern auf Brücken. Das Ministerium für Handel, Gewerbe und Öffentliche Arbeiten hatte verfügt, daß die Gleise »kreuzungsfrei über die Uferstraße geführt werden müssen.« So entstanden die ersten jener genieteten Eisenkonstruktionen, auf denen zehn Jahre später die Berliner Stadtbahnen rollen sollten, und die bis heute das Stadtbild Berlins prägen. Auch die Forderung der Stadt, daß Strousberg für die Pflasterung, Entwässerung und Beleuchtung der Straßen und Plätze des Bahnhofs Sorge zu tragen hätte, schreckte ihn nicht zurück. Strousberg unterschrieb, verschob die kostspieligen Arbeiten allerdings auf einen späteren Zeitpunkt. Das Ministerium zeigte sich kompromißbereit und ließ ihn bauen wenn auch ohne offizielle Baugenehmigung. Als kurz vor Fertigstellung des Lokschuppens die Baupolizei einschritt und bemängelte, daß die »Rohbauabnahme nicht stattgefunden« habe, »auch die Bauerlaubnis nicht vorhanden« sei, traf sich Strousberg mit dem befreundeten Polizeichef Izenplitz. Am 9. Oktober 1867 wurde endlich die Baugenehmigung für den fast fertigen Bahnhof erteilt, zehn Tage später wurde der Rohbau abgenommen, und in den 80erJahren fuhr die dampfende Bahn nach Görlitz bereits über 5 Millionen Reichsmark ein. Und am 11. Juni 1911 fanden die Berliner nur noch auf den Dächern des Zuges einen Platz, der nach Johannistal zum Flugtag fuhr. Am 3. Mai 1945 rollte die Rote Armee über die Gleise der Görlitzer Bahn, und noch im Sommer wurden die Gleise bis nach Oderin demontiert. Auch auf dem Bahnhof selbst verschwanden die eisernen Stränge bis heute aus ungeklärter Ursache. Der Zug nach Görlitz fuhr nicht mehr. 1951 richtete die Bahn im Hauptgebäude des Bahnhofs Werkstätten ein, ein Friseur und ein Zeitungskiosk hatten noch geöffnet, Wohnungen wurden im Bahnhof eingerichtet. Als das respektable Gebäude unter der mangelnden Pflege zu leiden begann, gingen besorgte Bürger zur Bauaufsichtsbehörde, doch vergeblich. Der Bahnhof, jetzt Eigentum der Reichsbahn, verkam. Keine der westlichen Behörden erhob Einspruch. In die beiden Güterschuppen zog eine Moschee ein, später wurde ein Kulturhaus eingerichtet. Und dort, wo einst einmal das Köpenicker Feld war und später die Fernzüge rollten, ist jetzt ein Park. Der »Görli«, geliebt und umstritten, und inzwischen selbst schon wieder ein Stück Berliner Geschichte. |