Kreuzberger Chronik
Juni 2006 - Ausgabe 78

Die Reportage

Jaques und die Kreuzberger Basketballkids


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von Hans W. Korfmann

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Wenn Du noch einmal lachst, dann mußt Du mir erklären, warum«, sagt Jacques zu dem kleinen Jungen, der leise kichert. Und dann, weil Jacques sich ein bißchen zu streng vorgekommen ist, fügt er hinzu: »Ich will nämlich auch mal wieder lachen.«

Keiner der Zuhörer, die um ihren Trainer herum auf dem Boden der Turnhalle sitzen, wagt einen Ton. Nirgendwo in der Dieffenbachstraße ist es so still wie jetzt in der Turnhalle der Lemgo Grundschule, in keinem Klassensaal kleben die Blicke so fest an den Lippen eines Lehrers wie im Keller. »Zu den Sportstätten« steht auf einem Pfeil an den Treppen, und dann geht es hinunter durch ein Labyrinth aus unterirdischen Gängen und schweren Eisentüren, bis man plötzlich in einer der drei Hallen steht. Da spielen sie alle nebeneinander, die ganz Kleinen, die etwas Größeren, und diejenigen, die täglich zwei Stunden trainieren und am Wochenende ihren Einsatz in der Liga haben. Davon träumen die Kleinen noch, und deshalb schauen sie auf zu den Großen.

»Das ist kein Spielplatz hier«, sagt Jacques zu den Kleinsten, und meint es ernst. Für ihn ist Basketball mehr als ein Spiel. Für ihn ist es das halbe Leben. Er warf schon nach den Körben, als er noch in dieser großen Stadt am Meer wohnte. Als er noch ein kleiner Junge in Tunis war. Zuerst spielte er auf dem Platz vor dem Haus, später in der Halle und im Verein. Basketball war ein Weg, der von der Straße wegführte. Deshalb suchte sich Jacques, als er 1970 nach Stuttgart kam, zuerst einmal einen Basketballverein. Er fand einen, gleich am ersten Tag.

»Das hier ist mehr als nur Basketball. Wir müssen die Jugendlichen von der Straße holen«, sagt Jacques. Da schien auch Jacques Sohn zu landen, als der Trainer in Charlottenburg seinen Job aufgab und die 12 jungen Korbjäger plötzlich auf der Straße standen. Da suchte sich Jacques den Berliner Turnverein auf und sagte: »Ich bin Basketballtrainer und möchte eine Basketballgruppe für Jugendliche aufmachen.« Jetzt  und darauf könnte Jacques stolz sein, wenn er Zeit dazu hätte  jetzt sind es etwa 100 Jugendliche, die beim Berliner Turnverein Basketball spielen. Aber 100 sind immer noch zu wenig. Die Kassen sind leer, und die jungen Sportler wollen schließlich auf Reisen gehen, sie wollen Turniere spielen, sie brauchen Trikots und gute Trainer. Das alles gibt es nicht umsonst, und deshalb redet Jacques jetzt immer häufiger vom Geld.

Selbst beim Treffen der Trainer, die gerade über ihre Teams in der Oberliga, der Bezirksliga, der Kreisliga sprechen, zieht Jacques seine große Schirmmütze noch etwas tiefer ins Gesicht als sonst und unterbricht sie plötzlich: »Es tut mir leid, wenn ich jetzt Eure wichtige Diskussion unterbreche, aber ich muß immer darüber nachdenken, wie wir zu Geld kommen.« Und dann erzählt er von seinen Ideen, Sponsoren zu finden, neue Mitglieder anzuwerben. Die Beiträge sind zu niedrig, um das alles zu finanzieren, in anderen Bezirken der Stadt zahlen die jungen Basketballer 250 Euro. Doch mehr als 13,50 Euro im Monat sind eben nicht drin in einem Bezirk wie Kreuzberg. »Wir brauchen«, sagt Jacques, »einfach mehr Kinder. Wir müssen in die Offensive gehen.

Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.« Jacques Sätze kommen schnell und kurz, manchmal wechseln sie unerwartet die Richtung, wie der Spieler beim Dribbeln, wenn plötzlich der Gegner vor ihm steht. Wenn man
Foto: Michael Hughes
nicht aufpaßt, ist Jacques schon vorbei. Und längst bei einem anderen Gedanken. Auch deshalb ist es still in der Turnhalle, wenn er spricht. Er sagt: »Wir sind wenige heute. Aber daß einer kommt und geht, wann er will, das will ich nicht. Das ist kein Kindergarten hier. Wer fehlt?« Später, als Mohammed mit den fünfzehn Kids durch die Halle sprintet und sie für das Training aufwärmt, setzt Jacques sich auf die Bank, schreibt eine Viertelstunde lang fein säuberlich etwas auf ein Blatt Papier und schneidet dann mit der Schere dreißig kleine Streifen mit seiner Telefonnummer heraus. Denn es gibt nichts Gutes, außer man tut es! Dann überreicht er die Streifen seinen Schützlingen: »Ich will, daß Ihr zum Training kommt. Ich bin sauer, wenn Ihr vor der Glotze sitzt und in die Breite geht! Verstanden? Hier ist meine Telefonnummer. Die hängt Ihr über Euren Schreibtisch an die Wand, direkt vor die Nase. Und wenn Ihr nicht kommen könnt, weil Ihr zu viel Schulaufgaben habt oder krank seid oder verreisen wollt, dann möchte ich, daß Ihr mich anruft. Ihr! Nicht Eure Eltern! Und daß keiner kommt und sagt, er hätte den Zettel verloren.« Dann rennen alle in einem Affentempo in die Umkleide und verstauen die Papierstreifen irgendwo dort, wo sie hoffentlich nicht verlorengehen. Und wenn sie dann wieder alle um ihn herumsitzen, fragt er: »Na, hab ich gut geschimpft?« Und muß ein kleines bißchen grinsen dabei. Die Kinder sehen es, aber ihre Mienen bleiben ernst. Er würde doch nur wieder fragen, was es zu grinsen gibt.

Jacques ist streng, aber »die Kids kommen gerne«. Der kleine Hendrik mit seinem blonden Haarschopf, Louis mit dem krausen Wuschelkopf und Patrick mit seinem TShirt von den Chicago Bulls. Jasper, Frank, Serdar, Aganem, Douschka.... Einer von ihnen sitzt auf der Bank und sieht zu. Die Mutter hat gesagt, er solle sich noch ein paar Tage schonen, aber er könne ja hinfahren und zusehen. Mit seinem alten Fahrrad, das sie sich aus alten Rädern zusammengebaut haben, er und sein Vater. Die Mutter hat ja jetzt nicht mehr so viel Zeit, die hat jetzt einen neuen Job im Kindergarten, »nicht wegen dem Geld, Geld gibts da nicht viel, nur so wegen der Arbeit«, erzählt der Junge mit den schwarzen Locken. Er sitzt auf der Bank am Rand und beobachtet mit großen Augen jede Aktion seiner Teamkameraden in der Halle. »Am Schluß werden sie spielen«, sagt er, »die letzten zwanzig Minuten spielen sie immer.«

Darauf warten sie alle: Endlich wirklich spielen zu können. Bälle in den Korb zu legen. Durch die Halle zu dribbeln. Das Spiel ist der Lohn für die Arbeit, für 100 Minuten Training, Laufübungen, Schrittezählen, Dribbeln, Werfen mit Links, Vortäuschen ... »Beim Dribbeln den Ball nicht ansehen«, ruft der Trainer, »immer den Korb im einen Auge, im andern den Gegner... Das ist kein Kindergarten hier... Nicht so ernst, mein Freund, lächeln, immer lächeln ...« Jacques muß zur Seite blicken, damit die Kinder nicht sehen, daß er schon wieder grinsen muß.

Julian sitzt auf der Pausenbank. Julian ist jetzt zehn, er spielt in der U14, der Gruppe der UnterVierzehnjährigen. Manchmal schaut er denen von der U18 zu. »Da sind schon ganz schön heiße Jungs dabei«, sagt Julian. Früher hat er Selbstverteidigung und Capoeira gemacht, aber das war alles irgendwie nicht das richtige. Das richtige ist Basketball bei Jacques.

Vielleicht, weil Jacques nicht nur das Spiel ernst nimmt, sondern auch die Spieler. Weil er die Kinder wie Basketballspieler behandelt, und nicht wie kleine Kinder. Weil er sagt: »Diese überbehüteten Kinder, aus denen wird nix. Man muß die Kinder loslassen  und begleiten.« Aber man darf ihnen nicht wie ein Schatten folgen. Man muß sie an einer unsichtbaren Leine laufen lassen. Wenn Jacques das sagt, dann spricht er nicht vom Training. Dann spricht er vom Leben. Auch wenn er im Training genau das macht: Er läßt sie laufen. Dribbeln. Vortäuschen. Stoppen. Springen. Und begleitet sie dabei mit Argusaugen, bis er plötzlich ruft: »Stop! Stop! Stop!« Dann bleibt das Bild der zwanzig durch die Halle wirbelnden Kinder abrupt stehen. Louis hat einen Fehler gemacht, aber Jacques schaut ihn nicht ein einziges Mal an während seiner Predigt, er sieht alle an, er nimmt den Ball und zeigt, wie man es richtig macht, aber plötzlich dreht er sich um und sieht Louis so tief in die Augen, daß dem Jungen die Schamröte in die Backen steigt.

Der Druck ist groß. Aber sie mögen ihren Trainer trotzdem. Sie kommen freiwillig. Sie wissen, er bringt sie weiter. Er bringt sie dahin, wo die von der U20 jetzt stehen, in die Bezirksliga. Oder in die Oberliga. Mit Jacques werden auch sie so große, schlaksige Gestalten werden wie die nebenan, mit ihm werden auch sie eines Tages die Bälle so locker in die Körbe legen, und mit ihm werden vielleicht auch sie eines Tages nach Tunesien fahren, wo Jacques sein großes Haus hat, wo er für sie Turniere organisiert gegen die Spieler von Tunis. Jedes Jahr.

Die Großen nebenan sind siebzehn oder achtzehn, ihre Eltern sprachen einmal verschiedene Sprachen, aber ihre Kinder stehen fast alle vor dem Abitur. »Das ist kein Zufall, daß die auch gut in der Schule sind«, sagt ihr Trainer Christoph. Basketball sei eben mehr als nur mit nem Ball vor dem Fuß auf ein Tor loszurennen. Schon das Vokabular ist schwierig, es gibt den Überkopfpaß, onside, Block, Facing, Penetration, Powermove&  wer neu einsteigt, braucht ein Wörterbuch. Aber trotzdem schaffen sie das, egal, ob sie zuhause türkisch sprechen oder vietnamesisch, in drei, vier Jahren sind sie spielreif. Und wenn sie ein wenig mehr Zeit hätten, ginge es noch schneller.

Foto: Michael Hughes
Doch seit dieser idiotischen Pisastudie bürdet man den Kindern noch mehr Hausaufgaben auf. Immer öfter heißt die Entschuldigung »Mathe« oder »Englisch«. Also hat Jacques beschlossen, seinen Schützlingen bei den Aufgaben zu helfen. Platz hat der legendäre Wirt genug in seinem Maison Blanche, im Sommer kommen sie nach dem Training sowieso bei ihm vorbei. Sie könnten aber auch vor dem Training kommen und ihre Aufgaben dort machen  unter der Aufsicht und mit dem Beistand des Basketballtrainers. Dann wären sie wenigstens pünktlich fertig. »Und wenn wir das mit der Hausaufgabenbetreuung organisieren, dann kapieren vielleicht endlich auch die Eltern, daß das kein Spiel ist hier. Sondern daß wir uns um den Werdegang ihrer Kinder kümmern.«

Sagt Jacques und zieht die lange Schirmmütze wieder etwas höher. Es ist spät, es ist voll geworden im »Weißen Haus« in der Körtestraße. Die Kinder schlafen jetzt alle schon. Vielleicht träumen sie vom großen Wurf, von Michael Jordan, vom Traumdribbel einmal quer durch die Halle, an allen Gegnern vorbei. Während Jacques an Sponsoren, an Spendenaufrufe, an neue Mitglieder denkt. Und seinen letzten Gästen, spät in der Nacht, noch einmal die Spendenbüchse neben dem Basketball zeigt. Die sie eh alle schon kennen. Er ist unermüdlich. »Weil das ist kein Spaß. Das ist Ernst!«


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