Kreuzberger Chronik
Juni 2006 - Ausgabe 78

Kreuzberger
Heinz Czech

Ich bin kein guter Redner. Ich schreibe lieber.


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Dieter Peters

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Ich bin eher ein zurückgezogener Mensch«, sagt Heinz Czech, hebt zum Zeichen der Entschuldigung die Schultern und lächelt ein bißchen. Er sitzt allein im Speiseraum und liest Zeitung, während andere an ihrem Joghurt löffeln oder Kreuzworträtsel lösen oder vor sich hinmurmeln. Heinz Czech liest noch immer gerne. Vielleicht, weil er früher selbst geschrieben hat. »Ich kann nicht gut erzählen«, sagt er und deutet mit dem Zeigefinger auf das Bild von Maria Schild, der Märchenerzählerin. »Ich bin kein guter Redner. Ich schreibe lieber.«

Doch von allem, was Herr Czech einmal geschrieben hat, gibt es keine Zeile mehr. »Das ist alles irgendwie verlorengegangen ...«, sagt er und hebt wieder die Schultern. Wer will, kann seine Artikel ja in den Archiven der Zeitungen oder Bibliotheken finden. Warum hätte er selbst das alles aufbewahren sollen? Er ist »nie so eine Sammlernatur gewesen«. Auch Urkunden und Medaillen, die der Tischtennisspieler Heinz Czech gewonnen hat, sind im Lauf des langen Lebens irgendwo, irgendwann einmal liegengeblieben. »Ich habe sowieso lieber über Tischtennis geschrieben als Tischtennis gespielt.«

Obwohl das ein schönes Spiel ist. »Meistens unterschätzt. Aber da kommt man ganz schön ins Schwitzen. Man muß schnell sein. Viel schneller als beim Tennis. Dafür muß man beim Tennis mehr laufen. So hat eben alles seine Vor und Nachteile.« Der kleine springende Ball begleitete Czech durchs Leben. Die ersten Spiele fanden im Wohnzimmer statt, als sie noch in der Neanderstraße wohnten, irgendwann zwischen dem 1. und dem 2. Weltkrieg. Sie zogen den Wohnzimmertisch aus und spannten in der Mitte das kleine grüne Netz auf. Die Tischtennisspiele im Wohnzimmer sind die letzte schöne Erinnerung an seinen Bruder. Als der 2. Krieg kam, »trennten sich unsere Wege.« Der Bruder war von den Nazis überzeugt und zog siegesgewiß nach Rußland. Er kam nie zurück. Heinz war Kommunist, blieb in Berlin und fand eine Stelle als Arztschreiber bei einem Neurologen. Wenn es einen Namen gibt im Leben des Heinz Czech, der immer wieder fällt, dann ist es der Name dieses Arztes: Doktor Burger. Burger war ein Bayer, der das Trinken liebte und die Nazis haßte. Als Burger eines Nachts mit einem Nazi aneinandergeriet und laut und deutlich seine Meinung sagte, verlor Burger seinen Posten im Robert Koch Krankenhaus. Doch die Praxis und das Leben ließen sie dem nachweislichen Arier.

»Ich habe erst viel später erfahren«, erzählt Czech, und man hört noch immer die Bewunderung für den ehemaligen Chef heraus, »daß Burger an einer Verschwörung gegen Hitler beteiligt gewesen war.« Auch Czech ballte die Faust, aber »lieber heimlich in der Tasche«. Der alte Mann erzählt das, ohne sich zu schämen. So wie er anderes erzählt, ohne stolz zu sein. »So ist das Leben eben«, sagt er, und hebt die Schultern.

Am 15. Januar 1945  Czech war bereits über dreißig  schickten die Nazis auch ihn noch in den Krieg. Aber er »hatte Glück«, schon vier Monate später trat er die Heimreise an. Berlin war jetzt eine Ruine, und Berlin war besetzt, weshalb Czech im Süden in Passau landete. Er sehnte sich nach seiner Krankenschwester, im April 1942 hatte er geheiratet. »Es gab keinen Postverkehr nach Berlin«, trotzdem erfuhr Czech, daß seine Frau lebte, und ließ ihr eine Nachricht zukommen. Im November überquerte sie heimlich die Grenze. Czech hatte inzwischen eine Stelle als Buchhalter und ein kleines Zimmer mit Kanonenöfchen, Holz gab es genug im Wald, und während die Berliner im Winter 45/46 furchtbar froren, »haben wir die Bude ganz schön warm gekriegt. 250 Mark hab ich verdient, das weiß ich noch genau«, sagt Czech. »Ich hab mich immer durchschlagen können«, sagt er. Und hat dabei nie sein Ziel aus den Augen verloren. Er war noch immer kein Journalist, aber immerhin hatte er eine Arbeit, bei der er seine geliebte Schreibmaschine nutzen konnte.

Die Schreibmaschine war eine der wenigen Habseligkeiten, die seine Frau aus der Melchiorstraße mitgebracht hatte. Auf ihr schrieb Czech später seine ersten Artikel. »Berlin in den Nachkriegsjahren war ja ein Zeitungsparadies, jede Zone hatte ihre eigenen Zeitungen. Und es gab keine Journalisten!« Czech aber hatte schon auf der Luisenstädtischen Oberrealschule in der Waldemarstraße »journalistische Bestrebungen« geäußert. Doch die Geschäfte des Vaters mit seinem »Multigraph«, einer umständlichen Vervielfältigungsmaschine von Schriftstücken, liefen nicht gut. Das Geld reichte hinten und vorne nicht, weshalb man Heinz 1927 von der Schule nahm und auf die Bank schickte. »Ich bin von Hause aus gelernter Bankkaufmann«, sagt Heinz Czech, »aber das war ein schwerer Schlag für mich gewesen damals. Ich war lernbegierig, ich war gut, und ich wußte, was ich wollte. Aber man ließ mich nicht! Dabei verdiente ich in der Lehrzeit sowieso nur 25 Mark im Monat.«

Aber auch die Lehre in der Commerz und Privatbank hatte ihr Gutes: nämlich eine Tischtennisabteilung. Czech spielte schon bald in der
1. Mannschaft, spielte Turniere und gewann. »Ich war ein ganz passionierter Spieler. Wenn es um Tischtennis ging, hab ich alles stehn und liegen lassen.«

Foto: Dieter Peters
Urkunden und Medaillen hat Heinz Czech keine mehr. Man kann nicht alles mitnehmen, das Leben ist so lang, seines zumindest. 94 Jahre ist Herr Czech jetzt alt. Er hebt die Schultern und lächelt, als wolle er sagen, er könne ja auch nichts dafür. Es ist noch nicht lange her, da starb seine Frau. »Das war ein sehr schwerer Verlust.« Sie haben sich ein Leben lang gut verstanden. Vielleicht wäre sein Leben anders verlaufen ohne sie. Sie war es, die immer gesagt hatte: »Heinz, du schaffst das«. Und sie hatte die Schreibmaschine gerettet.

Jetzt wohnt Heinz Czech in der Fidicinstraße, in diesem großen Haus voller alter Leute. Wer seine Nachbarn hier sind, das weiß er nicht genau. Er hat sich ein bißchen zurückgezogen. Manchmal kommt ihn seine Nichte besuchen, oder die Frau Becker, »die hat ein Auge auf mich«, die kennt ihn schon so lange. »Das ist schön«. Auch Frau Burger, die Frau des Neurologen, war einige Male da. Die ist ja auch bald so alt wie er. Sie haben sich all die Jahre nicht aus den Augen verloren, die Familie Burger und die Familie Czech. Gleich nach dem Krieg schrieb der Neurologe seiner ehemaligen Schreibkraft Atteste aus, damit Czech und seine Frau leichter zu Lebensmittelmarken kamen. Ohne ihn wäre vieles schwerer gewesen. Aber dann bekam seine Frau eine Stelle an der Charité, und Heinz Czech schrieb seine ersten Artikel für die Tägliche Rundschau.

Er ging in die Fabriken und die neuen Firmen. Er dokumentierte den Aufschwung. Manchmal wurden sie mißtrauisch wegen seiner vielen Fragen und vermuteten einen Spion aus der anderen Zone. »Aber dann sind wir uns doch nähergekommen. Es war eine tolle Zeit, der Wiederaufbau, die Zeit nach den Nazis, und ich war begeistert, darüber schreiben zu können.« Irgendwann aber berichtete der freie Journalist Czech über ein

In Italien
Foto: Dieter Peters
Tischtennisspiel. Zwar gab es noch immer einen »eklatanten Mangel« an Tischtennisbällen, aber man benötigte zum Aufstellen einer Tischtennisplatte nicht mehr Raum als den eines großen Wohnzimmers. Tischtennis wurde zu einer der beliebtesten Nachkriegssportarten im zerstörten Berlin, Czech kam immer häufiger zum Einsatz. Und als einer seiner Sportredakteure meinte, er solle jetzt Tennis machen, da machte er eben Tennis. »Dabei hatte ich von Tennis keine Ahnung.« Und irgendwann bekam der Sportreporter dann tatsächlich so viele Aufträge, daß die Krankenschwester zuhause bleiben konnte. Czech hatte es geschafft. Auch ohne Abitur.

Zu seinem 50. Geburtstag im Dezember 1961 schrieb der Tagesspiegel  und ausnahmsweise hat Czech diesen Geburtstagsgruß einmal aufbewahrt und die kleinen Zeitungsschnipsel in sein Fotoalbum geklebt: »Er fliegt nicht kreuz und quer durch Europa von einer Sportveranstaltung zur nächsten, er kennt keinen Neid und keine Mißgunst, er setzt unter seine Manuskripte nur selten seinen Namen, weil er die leisen Töne liebt. (...) Es gibt bei ihm niemals eine Verspätung, ein Vergessen oder ähnliche menschliche Dinge, die uns allen mal passieren.« Tatsächlich hatte sich Czech immer um Pünktlichkeit bemüht, wenn er seinen fein säuberlich notierten Text eine Stunde vor Redaktionsschluß »durch die Telefonleitung pustete«. Und jedes Wort saß, denn während andere am Telefonhörer frei sprachen, hatte Czech immer alles schon ausformuliert. »Reden liegt mir nicht so, ich schreibe lieber.«

Auch zehn Jahre später ist Czech noch im Rennen. 1971 schreibt der Tagesspiegel: »Er hat sich bei uns auf :Kurzurlaub9 abgemeldet: Heinz Czech, der :Mr. Zuverlässig9 unserer Sportredaktion. Er wird heute 60 Jahre alt, und da er seit mehr als einem viertel Jahrhundert mit Liebe, großer Fachkenntnis, nie erlahmendem Fleiß und einer minuziösen Pünktlichkeit etliche der sogenannten kleinen Sportarten (...) bearbeitet, würden sich praktisch die Vertreter des halben Berliner Sportlebens bei ihm die Klinke in die Hand geben, entzöge er sich dem nicht, weil ihm jedes Aufhebens um seine Person peinlich ist. (...) Zum Sportjournalismus fand er gleich nach dem Kriege, und es gibt wohl keine Berliner Zeitung, die noch keinen Beitrag von ihm druckte. Macht Cz. Urlaub, dann hinterläßt er eine lückenlose Termin und Anschriftsliste, dennoch wiederholt sich ständig der Stoßseufzer: Wann kommt er endlich wieder?«

Seit der letzten Gratulation des Tagesspiegel sind nun schon wieder 35 Jahre vergangen. Und seitdem hat sich Herr Czech noch ein bißchen weiter zurückgezogen. Im Seniorenheim in der Fidicinstraße. Aber wenn es warm ist, dann geht er hinaus, eine Tür seines Zimmers führt in den Garten, da kann er sich auf eine Bank in die Sonne setzen und lesen. Er spricht nicht viel mit den vielen Leuten im Haus, er liest lieber. Auf seinem Tisch liegen Zeitungen und Bücher, Fontane und ein historischer Roman und ein deutschitalienisches Wörterbuch. Manchmal durchblättert der alte Mann das Fotoalbum und sieht sich die Bilder aus Rom, Triest, Venedig noch einmal an. Und jedes Mal scheint er überrascht zu sein, wenn plötzlich seine Frau auftaucht. Dann lacht er. »Und da«, sagt er und deutet mit dem Finger auf eine andere Frau zwei Seiten weiter, »die war in unserer Tischtennismannschaft. Die spielte gut. Sehr gut sogar.« Aber dann blättert er noch einmal zurück  um zu sehen, ob seine Frau da immer noch in der Gondel unter der Rialtobrücke steht.


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