Kreuzberger Chronik
Juni 2006 - Ausgabe 78

Luft und Kerr

Horst im Mehringhof


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von Michaela Prinzinger

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Im Grunde waren Luft und Kerr so etwas wie These und Antithese. Der eine war meistens der Ja, der andere der Neinsager. Bei wechselnden Rollen. Das einzige, das sie einte, war ihre Leidenschaft für Kleinkunstbühnen. Aber bevor Luft und Kerr als Kritikerduo Karriere machten und mit der Zuverlässigkeit des Sonnenaufgangs pünktlich jeweils fünf Minuten vor Beginn jeder Kreuzberger Theaterpremiere erschienen, um nach der Vorstellung dann vollkommen zerstritten in zwei entgegengesetzte Himmelsrichtungen auseinanderzustreben, gingen Luft und Kerr mitunter wunderbare Synthesen ein. Sie ergänzten einander in nahezu duckreifen Lobreden, spornten sich zu geradezu literarischen Höhenflügen an. Luft pries die Schauspieler, Kerr den Text, Luft das Licht, Kerr die Musik.

Ebenso perfekt allerdings ergänzten sie sich in ihren Beschimpfungen, und Regisseure und Veranstalter schlugen das Kreuz, wenn das
Pärchen auftauchte. Nicht selten verließen die Theaterleute panikartig den Raum, wenn Luft und Kerr ihrer allen ernstzunehmenden Kritikern angeborenen Boshaftigkeit freien Lauf ließen. Erst später, als sich ihre schon legendären Beschimpfungen nicht mehr allein auf die Bühne, sondern auch gegen den Rest der Kreuzberger Kritikerschar und am Ende sogar gegeneinander richtete, ließ die Zerstörungskraft ihrer Worte nach. Sie hoben sich im Streit sozusagen gegenseitig wieder auf.

Ein Künstler aus jenen Tagen, als Luft und Kerr noch eine Einheit bildeten, war Horst Evers. Sie kannten ihn seit dem Frühschoppen. Und als Luft sagte, »komm, wir schauen uns mal wieder den Horst an«, da murmelte Kerr zwar etwas von »schon wieder«, fügte aber gleich hinzu, daß die Abende im Mehringhof doch meist sehr amüsant seien. Dr. Seltsams Frühschoppen war einer ihrer ersten gemeinsamen Kabarettbesuche überhaupt gewesen. Man traf sich im Kulturhaus Mitte bei »ClubCola« und »Karo« in einem schmalen Raum neben dem Kaminzimmer. Vier Gestalten saßen vorne, die gerade dabei waren, eine neue Disziplin ins Leben zu rufen, nämlich das sogenannte Wortvarieté: Weil sie zu faul waren, ihre Texte auswendig zu lernen, lasen sie vom Blatt und blödelten zwischendurch herum. Die Stimmung war gut, Luft begann sofort zu kichern, und während Scheffler, Husen und Dr. Seltsam da vorne nebeneinander hinterm Tisch saßen und Spaß machten, saß am Rand ganz klein und still und mit einem Gesicht, als wolle er seinen Brei nicht essen, Horst Evers in seinem roten Hemd.

Kerr überlegte, was das denn für einer sei, aber Luft sagte später, sie habe sofort geahnt, daß sein Unschuldsgesicht Programm sei. Daß da einer in seine Rolle gefunden hatte. Und kaum hatte dieser Horst gesagt, er heiße Horst, grölte das Publikum schon los. Horst war längst Geheimtip.

Er hat einfach so ein sympathisches Gesicht!«, meinte Luft. »Den muß man einfach mögen.« Kerr sah seine Partnerin von der Seite an. »Und dann dieses rote Hemd immer ...«  »Signalfarbe!«, meinte Kerr. »Und so bescheiden ist er.«  »Er sieht nur so aus«, sagte Kerr. Kerr wurde den Verdacht nicht los, daß Luft nur deshalb regelmäßig zu Horst ging, weil sie sich in diesen Komiker mit seinem Signalfarbenhemd verliebt hatte.

Doch auch am folgenden Abend im Mehringhof, wo Horst vom »Gefühlten Wissen« erzählte, fand Kerr keine weiteren Indizien für ein unkritisches Kritikerverhalten Lufts. Er überlegte schon, sie mit bösartigen Kommentaren anzustacheln, nur um zu sehen, wie sie reagieren würde. Aber es fiel ihm nichts ein. Er mochte ihn ja selbst, diesen Mann mit seinen komischen Phantasien. Von denen alle schrieben, sie seien aus dem Leben gegriffen. Das wäre ein lustiges Leben, dachte Kerr.


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