Juli 2006 - Ausgabe 79
Herr D.
Im Schatten des Windes von Hans W. Korfmann |
Herr D. hatte beschlossen, die Ferieninsel auszulassen und zwei Wochen Stadturlaub zu buchen. Und zwar in Berlin. Seine Freunde verbrachten alle zwei Jahre ihren Urlaub in der Stadt. Sie kauften sich einen Reiseführer, eine Radtourkarte, einen gastronomischen Begleiter, erkundigten sich nach günstigen Tagesausflügen und den Theaterangeboten und erlebten Berlin 2 Wochen lang so, als wären sie Touristen und würden nicht schon seit 20 Jahren in Berlin wohnen. Herr D. hatte sich auch schon richtig auf diesen Berlinurlaub gefreut. Die Stadt würde sich in diesem Sommer ja besonders anstrengen und sich von ihrer attraktivsten Seite zeigen. Schließlich war die Welt zu Gast, und am 9. Juli würde das Endspiel stattfinden. Tatsächlich wimmelte es auf Kreuzbergs Straßen schon Tage vor dem Eröffnungsspiel von jungen Menschen und Bildschirmen und Leinwänden. Der einzige Nachteil an so einem Berlinurlaub war die hohe Regenwahrscheinlichkeit. Und tatsächlich: Gleich am ersten Ferientag regnete es. Aber auch das war bei einem Heimurlaub ein Vorteil: Man hatte garantiert genügend Bücher im Hause. Herr D. wählte lange und sorgfältig, nahm einen Schirm und das Buch, suchte sich ein kleines Café in der Fidicinstraße, weil ihn dort leise klassische Musik berieselte, bestellte ein Stück Zupfkuchen, ein Mineralwasser und einen Kaffee, und lehnte sich zufrieden zurück. Interessiert las er etwa zehn Minuten. Dann traten erste Ermüdungserscheinungen ein. »Die Haut ihres Gesichtes und ihres Halses war blass, beinahe durchsichtig.« Herr D. gähnte. Er »hatte einen Kloß im Hals, und der Speichel wurde zu Sägemehl« Herr D. schluckte. Wenig später rülpste Herr D., denn »Daniel glitt durch die Tür.« Wie oft »glitten« diese literarischen Wesen lautlos durch irgendwelche Türen! Eigentlich langweilten Herrn D. solche Phrasen, aber dieses Mal ärgerte es ihn, denn Daniel war gerade mal zehn Jahre alt, und ein Zehnjähriger rennt, hüpft oder stolpert, ein Zehnjähriger schleicht vielleicht. Aber er gleitet nicht. Die Sprache dieses Buches war Herrn D., dem hauptberuflichen Leser von Aktenordnern, nicht präzise genug. Außerdem hatte Herr D. bei jeder Figur dieses Romans den Eindruck, als habe er von ihr schon woanders gelesen. Als auf Seite 37 wieder dieser Mann auftauchte, der ein Bein nachzog, um sich wahrscheinlich demnächst als Teufel zu outen, packte Herr D. »Im Schatten des Windes« wieder in seine Jackentasche und winkte dem Wirt. So ein schlechtes Buch konnte einem tatsächlich den ganzen Tag verderben! Sogar den ersten Ferientag. Dabei hatte Herr D. den halben Vormittag vor seinem Stapel ungelesener Bücher gestanden und sich erst nach reiflicher Überlegung für diesen Bestseller entschieden in der Hoffnung, daß sich so Viele nicht irren könnten. Aber vielleicht hatte den heimlichen Freund des Automobilrennsports auch die poetische Abwandlung der prosaischen Vokabel »Windschatten« verführt. Doch »Im Schatten des Windes« war nicht poetisch. Es handelte auch nicht von Rennfahrern. Es langweilte nur. Falls es nicht ärgerte. Auf dem Heimweg erinnerte sich Herr D. an die Fernsehsendung, in der Elke Heidenreich den Bestseller vom Windschatten vorgestellt hatte. Er fragte sich, wie so ein glänzender Rhetoriker wie Joschka Fischer diesen Satz sagen konnte: »Sie werden alles liegenlassen und die Nacht durchlesen!« War er von der Moderatorin bestochen worden, würde er demnächst bei Suhrkamp anfangen, würde er vielleicht gar selbst als Autor ...? |