Februar 2006 - Ausgabe 74
Das Essen
Im Castel Montecroce von Michael Unfried |
Er sah aus, als würde er jeden Moment losheulen. Was seinen Freund nicht davon abhielt, immer weiter von diesem Franzosen zu erzählen, der immer am Fluchen war und sein Leben lang immer nur Pech gehabt hatte, und dessen größte Augenblicke im Leben vielleicht jene waren, als er in Cannes einen Job als Liftboy bekam und Romy Schneider aufs Zimmer fahren durfte. »Und jetzt ist er tot. Ganz einfach vor dem Fernseher.« Mit jedem Wort, das der Freund sprach, schien der andere den Tränen näher zu kommen, da plötzlich kam Marco. Marco hatte die ganze Zeit am Tresen gesessen und Pizza gegessen. Obwohl er eigentlich der Chef vom Castel Montecroce war. Auch die Chefin aß eine Pizza. Eine Calzone Verde mit duftend grünem Spinat und kleinen schwarzen Oliven. Marco kam also gerade noch rechtzeitig an den Tisch und fragte: »Wissen Sie schon, was Sie trinken möchten?« »Wollen wir den Grappa vor oder nach dem Essen trinken?«, fragte der, der die ganze Zeit erzählt hatte. »Wir könnten ihn ja ausnahmsweise einmal vor dem Essen trinken!«, sagte der, der vor wenigen Sekunden beinahe losgeheult hätte, und machte ein zufriedenes Gesicht. Der Erzähler bestellte zwei Grappa und eine Pizza Calzone Verde. »Und eine Pizza Montanara mit Büffelspeck und rohem Schinken« Die Pizza kam schnell. Und sie war gut. Sofort vergaßen die Beiden den Toten. Angesichts der wild kauenden Freunde sagte Marco: »Es freut mich, wenn es Ihnen schmeckt. Sie brauchen auch keine Angst wegen Bauchschmerzen zu haben. Wir machen den Teig am Vortag, da braucht man kaum Hefe.« »Wunderbar«, sagte der Freund, der gerade noch losheulen wollte, »wunderbar. Ich komme wieder.« Dabei hatte Marco eigentlich nie vorgehabt, Pizzabäcker zu werden. Und in Berlin war er nur hängengeblieben, weil Berlin eben eine interessante Stadt war. Und weil da eine schöne Frau in der Stadt war. Die war jetzt die Chefin vom Castel Montecroce. Nein, eigentlich hätte Marco Schnapsbrenner werden müssen. So wie sein Großvater, der immer in der Scheune destillierte, bei verschlossenen Türen, weil es nicht so ganz legal war. Weshalb Marcos Mutter, damals noch ein kleines Mädchen, beinahe gestorben wäre. Aber irgendjemand fand das bewußtlose Mädchen rechtzeitig in einer Ecke der Scheune. Erzählt Marco und lacht und stellt einen Grappa auf den Tisch. »Sonst wäre ich gar nicht geboren!«, sagt er. Es ist der Edelste aus dem Sortiment, auf das Marco stolz ist. Acht Jahre lagert der »Nonino Antica Cuvée 43°« im Faß, im »Adlon kostet der 18 Euro.« Hat die Tochter der Familie Nonino erzählt, die hier Urlaub machte und sich wunderte, was ihr Schnaps kostet. Die Familie Nonino ist eben eine Legende unter den Grappaherstellern, seit 1897. »Drei wunderschöne Töchter«, lächelt Marco und hat auch gleich ein Bild von ihnen. Der Freund, der gerade noch losheulen wollte, strahlt. »Was für wunderschöne Frauen.« Die Freunde testen noch den klassischen »Nonino Friolana«, ebenfalls aus dem Faß, den schlichten »Nonino Tradizionale« für 2,50, den duftenden »Nonino Acquavite Fragolino 38°«, »der riecht ein bißchen nach Anis«, und dann noch den »Nonino Moscato«, diesen milden, nach Vanille und Rosen und Lemonen duftenden Schnaps, den Marco »Mädchengrappa« nennt. Weil er nicht brennt. Zehn verschiedene Noninos hat Marco, aber eigentlich ist das zu wenig. Denn »jeder Moment hat seinen Grappa. Und es gibt so viele Momente im Leben! Aber Sie müssen die nicht alle trinken. Die Profis reiben ein paar Tropfen Grappa auf das Handgelenk und riechen daran. Wie beim Parfum.« Da macht der Freund wieder ein betrübtes Gesicht. Michael Unfried |