Dez. 2006/Jan. 2007 - Ausgabe 83
Essen, Trinken, Rauchen
Der seltsame Gast im Via He von Hans W. Korfmann |
Der Kopf war rundlich und trug eine goldene Brille. Auch der Bauch war rundlich, trug aber eine Krawatte. Jeder der anwesenden Gäste stellte sich die Frage: Was hat diese Mischung aus Biolek, Siebert und Exkanzler Kohl die Heimstraße hinauf in dieses kleine Lokal getrieben? Durch welche Kanäle hatte der Mensch Wind bekommen vom Via He? Der Mensch stand jetzt ein bißchen irritiert, aber keineswegs verunsichert, in der Mitte des Lokals und spähte nach einem geeigneten Platz aus zwischen der Berliner Mischung, die sich an diesem Mittag im Via He eingefunden hatte. Er wählte einen Tisch zwischen einem Motorradfahrer mit Freundin, die ganz unverschämt über Sexualpraktiken debattierten, und einem gut situierten, älteren Paar, das keineswegs asiatisch aussah, aber die die kleinen Reishäufchen auf Stäbchen zum Mund balancierte, ohne daß ein einziges Körnchen auf den Teller zurückfiel. Es war offensichtlich einer der Köche persönlich, der an den Tisch des Herrn mit der Goldbrille trat, eine Verbeugung andeutete und schweigend die Karte aufblätterte. Als der Gast sieht, daß es einen Mittagstisch für 5 Euro gibt, ist er entsetzt. Mißtrauisch blickt er zu dem Motorradfahrer hinüber, der, während ihm die Reisnudeln aus den Mundwinkeln baumeln, über Fellatio spricht, was die suppenlöffelnde Schönheit mit den gepiercten Augenlidern nicht sonderlich zu beeindrucken scheint. Als die Dame vom Nebentisch, die abwechselnd arabisch, englisch und französisch spricht, den skeptischen Blick des Herrn mit der Goldbrille sieht, sagt sie: »Man sieht den jungen Leuten heute den Hunger ja geradezu an, nicht wahr?« In akzentfreiem Deutsch. Zum zweiten Mal verbeugt sich nun der Vietnamese vor dem Tisch des Herrn, und der Herr sagt: »Ich habe gehört, daß es hier phantastisch schmeckt. Stimmt das?« Der Vietnamese spricht nicht besonders gut deutsch. Er kocht ja auch nicht deutsch, sondern vietnamesisch. »Jedes Gericht auf der bauen Seite kostet nur 5 Euro!«, sagt der Koch. »Ich nehme zwei Nem Goi Cuom mit Rindfleisch als Vorspeise, Pho Ga und ein Ga Nau Curry nuoc dura«, antwortet der merkwürdige Gast, als bestellte er eine Curry mit Pommes. »Aber große Portionen!«, wendet der Koch ein. »Egal!«, sagt der Herr, lehnt sich entschieden zurück und hört, wie hinten am Tisch einige Österreicher über den »Transfer von 2,3 Millionen« plaudern, und von einem Fonds, der nichts mehr mit Soßen zu tun hat. Während nebenan der Motorradfahrer bei den Vorzügen des Analverkehrs angelangt ist, putzt der fremde Gast die Goldbrille. Da endlich kommen die beiden hauchdünnen Reispapierröllchen, die er als Vorspeise bestellt hat! Schon beim zweiten Bissen schließt er die Augen und läßt all diese Gewürze aus den Tiefen des Urwaldes auf der Zunge zergehen. Auch die Suppe mit dem Anisstern, dem Kardamom, dem Lauch, dem Zimt, ist eine dampfende, duftende Brühe, schwanger von den Ausdünstungen alter, geheimnisvoller Wurzeln, die sich in die schwarze Erde Asiens graben. Abermals schließt der Herr die Augen und legt die vom Dampf beschlagene Brille beiseite, bis der letzte Löffel gelöffelt ist. Ganz vergessen hat er, daß nach der Suppe noch etwas kommt. Da setzt er die Brille wieder auf und sieht vor sich ein Curry mit strahlend weißem Reis, hellgrünem Zitronengras, dunkelgrünen Bohnenschoten, dunkelbraunen Pilzen, hellbraunen Fleischstückchen und purpurroten Chillischoten. Der Herr sieht jetzt glücklich aus. Zum letzten Mal legt er die Brille beiseite und schließt die Augen. Und ißt und ißt und ißt ... |