September 2005 - Ausgabe 70
Strassen, Häuser, Höfe
Der Segitzdamm von Jürgen Jacobi |
Martin Segitz wird am 26.7.1853 in Fürth als Sohn eines Drechslermeisters geboren, besucht die Volksschule, erlernt den Beruf des Zinngießers und arbeitet in mehreren Betrieben bis 1888 als Metallarbeiter. Katholisch getauft, tritt er jedoch 1874 der Gewerkschaft und der SPD bei. Vier Jahre später, im Oktober 1878, erläßt Bismarck unter Kronprinz Friedrich Wilhelm das »Gesetz gegen die gemeingefährichen Bestrebungen der Socialdemokratie«. Ursprünglichnur für zweieinhalb Jahre gedacht, wird es bis 1890 immer wieder verlängert. Zwar verbietet dieses Gesetz nicht die SPD, wohl aber ihre Verbände und Vereine. Von seinem 25. bis zu seinem 37. Lebensjahr erlebt der junge Martin Segitz, was es bedeutet, Mitglied der SPD und der Gewerkschaften zu sein. Trotzdem wird er im Jahr 1879 Mitarbeiter der Fürther Bürgerzeitung, einer der SPD nahestehenden Tagespresse, und gründet zudem mit den Sozialdemokraten Grillenberger und Scherm 1883 die Metallarbeiter Zeitung. Im Jahre 1888 wird er Reporter der Fürther Bürgerzeitung, und von 18901899 Mitarbeiter der Fränkischen Tagespost. 1890 ist er zudem der Initiator eines Aufrufes von Metallarbeiter-Vertrauensleuten, der im selben Jahr zur Bildung einer Generalkommission aller deutschen Gewerkschaften führt. Für die Metallarbeiter ist es 1891 soweit: Auf einem Kongreß in Frankfurt am Main wird der Deutsche Metallarbeiter-Verband gegründet. Martin Segitz ist der Urvater der IG-Metall. Auf dem Kongreß in Frankfurt betont er, daß sich die Vertrauensmänner der Metallbranchen für das »Industrieprinzip« entschieden hätten, weil sich die alte Organisationsform gegliedert nach beruflicher Qualifikation wegen der fortschreitenden Industrialisierung nicht mehr aufrechterhalten ließ. 1894 gründet er das Arbeitersekretariat in Nürnberg, dem er als Erster Arbeitersekretär angehört. In dieser Eigenschaft gründete er zahlreiche Arbeiterberufsvereine und Krankenkassen zur Unterstützung in Not geratener Arbeiterfamilien. Dem Arbeitersekretariat in Nürnberg folgten weitere im ganzen Reichsgebiet. Die Sekretariate gaben nicht nur Auskunft und Rechtsbeistand im Zusammenhang mit Kranken-, Unfall-, Alters- und Invaliditätsversicherungen, sie waren auch berechtigt, im Heimatrecht, Bürgerrecht, Eherecht, Armenrecht und Mietrecht zu beraten. Um den wachsenden Einfluß der Sozialdemokratie auf die Arbeitnehmer einzudämmen, hatte Bismarck 1881 zwar die gesetzlich geregelte Pflichtversicherung für Arbeiter und Angestellte im Falle von Krankheit, Unfall, Alter und Arbeitslosigkeit eingeführt. Trotzdem lebten lohnabhängig Beschäftigte unter miserablen Wohnbedingungen und katastrophalen hygienischen Umständen. Aus einer Statistik des Nürnberger Arbeitersekretariats »... zur Aufhellung der Lebensverhältnisse des Nürnberger Proletariats« aus dem Jahre 1899 wird deutlich, unter welch miserablen Umständen Arbeitnehmer ihr Leben fristen mußten. In einer penibel geführten Statistik werden 44 Haushalte ein Jahr lang bezüglich ihrer Ein- und Ausgaben, sowie ihrer Wohnungsverhältnisse untersucht. Obwohl hierbei bis auf die Ausnahme eines Tagelöhners nur qualifizierte Arbeiter ( z. B. Seiler, Brauer, Lebkuchner, Possamentierer, Pinselmacher, Borstenzurichter, Drechsler, Büttner) erfaßt werden, ergibt sich ein Bild erschreckender sozialer Not. Fast alle der untersuchten 44 Haushalte kommen ohne Zusatzverdienst der Frauen nicht aus. Die zusätzliche Einnahmequelle besteht oft aus Untervermietung, Kost, sowie Wäsche und Bügeln. Untermieter werden als »Aftermiether, Logisherren, Schlafgänger« bezeichnet, hinzu kommen noch sogenannte »Kostkinder«, also Kinder, die von der eigenen Familie vermutlich aus zeitlichen Gründen nicht mit einer Mahlzeit versorgt werden konnten. Daneben helfen Näh- und Heimarbeiten aller Art über die Runden. Da zum Zeitpunkt der Erhebung ein » Verbot der Lohnarbeit verheirateter Frauen in den Fabriken« besteht, wird auch klar, weshalb die Untervermietung weit verbreitet war. Doch wirklich bedrückend werden diese Fakten erst, wenn die Statistik auf die Wohnverhältnisse eingeht: Zwei Drittel aller Aborte befinden sich außerhalb der Wohnungen. Davon wiederum ein Drittel außerhalb des Hauses. In den meisten Wohnungen verfügen die zusammengepferchten Bewohner nur über einen einzigen Abfluß und Kaltwasser. Diphtherie, Cholera, Pocken, Scharlach, Tuberkulose und Milzbrand fordern weitaus mehr Tote vom Proletariat als von den Reichen. Wenn es überhaupt so etwas wie eine gerechte Krankheit dieser Zeit gibt, dann ist es der Typhus. Er fordert prozentual gleich viele Tote unter Arm und Reich. Erste Sozialhygiene-Richtlinien sahen vor, daß jeder Person 20 Kubikmeter Luftraum zur Verfügung stehen sollten. Der Hintergrund dürfte gewesen sein, daß sich die Wohnungen in alten Häusern befanden und die Zimmerdecken oft unter drei Metern Höhe ansetzten. Der geforderte Luftraum bezieht sich also auf eine Grundfläche von gut 2 mal 3 Metern. Die zur Verfügung stehende Luft in den stickigen Wohnungen war jedoch ein wichtiges Kriterium zur Bewertung der Lebensqualität. In der Statistik des Arbeitersekretariats verfügt gerade einmal die Hälfte der Untersuchten über diese 20 Kubikmeter, obwohl alle bis auf den erwähnten Tagelöhner qualifizierte Arbeiter sind. Bedenkt man außerdem, daß das Mobiliar nicht berücksichtigt ist, wird die Enge noch bedrückender. Ein bißchen Licht in die düsteren Wohnverhältnisse bringen Petroleumlampen, Kerzen, Dochte und Feuerzeuge. Gaslampen hatten nur die wenigsten. Martin Segitz und die von ihm initiierten Arbeitersekretariate haben die dunklen Seiten der Industrialisierung beleuchtet. Segitz ist nie über den Abschluß der Volksschule hinausgekommen, doch in den damaligen Zeiten der SPD war dies kein Hindernis. Mehrere Male wurde er in den bayrischen Landtag und zweimal in den Reichstag gewählt. Dort allerdings stimmt er wie alle seine Parteigenossen den Kriegskrediten zur Finanzierung des 1. Weltkrieges zu. Die verheerenden Folgen dieser sozialdemokratischen Politik kann der sonst so engagierte Anwalt und Organisator der Arbeiterklasse dann wenig später federführend in einer Studie über »Die Kriegsfürsorge in Bayern« feststellen. Ebenso in seiner Eigenschaft als Staatskommissar für Demobilisierung während der Räterepublik 1918/19 in München angesichts hungernder, invalider und demoralisierter Frontheimkehrer. Martin Segitz starb am 31.7.1927 in Fürth. |