September 2005 - Ausgabe 70
Herr D.
Unter Tieren von Hans W. Korfmann |
Natürlich gab es auch in Kreuzberg Tiere. Es gab herrenlose Vögel, Katzen, Hunde. Es gab Ziegen hinter Gittern, Pferde und sogar Schafe, Hirsche und einen Elch. Aber manchmal wollte Herr D. andere Tiere sehen. Dann mußte er Kreuzberg verlassen. Dann ging er nach Friedrichsfelde. Herr D. liebte den Tierpark. Diese riesigen Wiesen, auf denen Büffel grasten, Kamele ihrer Wege zogen, Kolonien von Flamingos und Pelikanen heimisch zu sein schienen. Dazu der Charme des maroden Sozialismus. Als Herr D. aber nach dem Mauerfall in einer Tageszeitung die fünfzeilige Nachricht vom plötzlichen Tod des langjährigen Direktors las, den man eine Woche zuvor entlassen und durch einen Mann aus dem Westen ersetzt hatte, war ihm die Lust am Zoo vergangen. Doch kürzlich, am 1. Juli, war er wieder da. Denn am 1. Juli 1955 hatte die DDR feierlich die Tore ihres Tierparks geöffnet, und so, wie auch der Fernsehturm des Ostens höher war als der des Westens, war auch der Zoo des Ostens größer als der des Westens. Und auch an diesem Sonntag standen die Menschen wieder brav in langen Zweierreihen, in weißen Hemden, grauen Hosen und Sandalen mit weißen Söckchen bis auf die Straße. Die Aktuelle Kamera wäre begeistert gewesen. 10 Euro kostete jetzt der Eintritt für Erwachsene in Lohn und Brot, 7,50 für die vielen Arbeitslosen in der Gegend. Lediglich die Familienjahreskarte für 130 Euro, gültig für drei Kinder, zwei Eltern und zwei Großeltern, erinnerte noch ein bißchen an die gute alte Zeit. Ansonsten hatte der Kapitalismus seine Spuren auch im Reich der Tiere hinterlassen. Die Löwen waren trotz des erhöhten Eintrittspreises stark dezimiert. Herr D. erinnerte sich an ein ganzes Rudel von zehn, zwölf ausgewachsenen Raubkatzen, deren Gebrüll ohrenbetäubend war. Jetzt waren es noch zwei, und die lagen so träge und satt in der Ecke wie die Tiere des Westens. Auch die Affen waren weniger geworden, und sogar der Beo, dessen derber Wortschatz ihn in allen Zeitungen bekannt gemacht hatte, war wegrationalisiert. Unverändert geblieben waren nur die Menschen. Sie standen genau wie damals geduldig um Wurst und Bier an. Die ergrauten Tanzkapellmeister stimmten zur Feier des Tages Heimatlieder an, für die sie im Westen mit einer Anzeige wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses hätten rechnen müssen, und die Eisverkäuferin reichte dem knatschigen Kind das Schokoladeneis mit der Bemerkung: »So, und jetzt wird gelacht.« Herr D. seufzte. Da klopfte ihm jemand auf die Schulter. »Herr D., na, das ist aber ne Überraschung.« Das fand Herr D. auch. Die beiden hatten sich nie gemocht, doch »Leuchte« strahlte ihn an, als wären sie die besten Freunde gewesen. »Immer noch in Marzahn?«, fragte Herr D. »Na klar, wo solln wa denn hin? Einmal Ossi, immer Ossi!« Herr D. nickte. »Und Arbeit gibts ja nun ooch keene mehr im Westen! Da bleib ich doch lieber daheim. Da geh ich wenigstens nicht allein unter. Aber schön geworden, unser Tierpark, hätten Sie das gedacht? Alles so gepflegt jetzt, haben Sie gesehen? Und ich dachte, die würden den zumachen. So wie sie Narva zugemacht haben. Was soll so eine Stadt auch mit zwei Zoos? Aber wahrscheinlich wußten sie nicht, wohin mit den Tieren. Die kann man ja nicht einfach auf die Straße werfen so wie uns damals &« Herr D. sah zu, daß er weiterkam. Die Kur an der Ostsee hatte offenbar nichts genutzt. Schon damals konnte der ehemalige Narva-Mitarbeiter nicht an seine alte Firma denken, ohne jedes Mal in Tränen auszubrechen. Als er an der Eisverkäuferin vorüberkam, dachte er: »Jetzt wird gelacht, Leuchte!« |