Kreuzberger Chronik
Oktober 2005 - Ausgabe 71

Kreuzberger
Lui Chi

Ich koche nicht nach Buch, sondern mit allen Sinnen


linie

von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Michael Hughes

1pixgif
Ja, manchmal hoam die Leute schon gschaut, wenn sie im Tiroler Hof a Wiener Schnitzel bestellt hoam oder a Gselchtes mit Knödeln, und dann steht da so ein Koch!« Der Koch lacht vor Vergnügen. Es hat ihn oft geärgert, aber es hat ihm auch immer

Spaß gemacht, die Leute zu verdutzen. Nicht immer nur schüchtern zu lächeln. »Vor allem, wenn ich nach Tirol auf Saison gegangen bin. So auf 2000 Metern ist das schon a bisserl anders als daheim in Gmunden.« In Sölden, wo gerade der Ski-Weltcup eröffnet wurde, hat ihm die Chefin beim Kochen drei Tage lang skeptisch über die Schulter geschaut. Und die Gäste haben lange Gesichter gezogen, wenn der Koch aus der Küche kam. Bis der Koch etwas sagte. Dann war klar: »Der schaut nur so aus wie a Chines! Aber dös is köiner.«

Doch nicht nur in entlegenen Alpentälern, im Goldenen Brunnen, im Hotel Sani, im Tiroler Hof oder im Schweizer Hof, wo man derbe Dialekte spricht, auch im Riehmers in der Hagelberger Straße steht man den österreichischen Kochkünsten eines Mannes mit asiatischer Physiognomie eher distanziert gegenüber. »Ich sah die reinkommen und sag zur Küchenhilfe: Jetzt gibts Ärger!« Die Herrschaften setzten sich, bestellten vier Wiener Schnitzel, und kaum waren die auf dem Tisch, da gingen sie auch schon wieder zurück in die Küche. »Wir fahren jedes Jahr einmal nach Österreich, wir wissen, wie Wiener Schnitzel schmecken müssen!« Dabei waren die Schnitzel schön dünn geschnitten, die Semmelbrösel frisch aus Österreich eingetroffen. Zudem sind Schnitzel die Leibspeise des Kochs  so wie jedes echten Österreichers. Doch der Koch bleibt höflich. Er zeigt asiatische Geduld. Auch, als sich ein paar Tage später ein anderer Gast beschwert, er habe die Schnitzel frittiert, anstatt sie in der Pfanne auszubacken. »Wie sonst hätte so ein Chines so eine schöne Blase in der Panier hingekriegt!«

Foto: Michael Hughes
Lui Chi hat Geduld gelernt. Er war noch kein Jahr alt, als er ins Land gebracht wurde, er spricht heute akzentfrei deutsch und österreichisch, je nach Bedarf. Er verstand schon als Kind sehr genau, was es bedeutete, wenn sie »Schlitzauge« oder »Reisfresser« sagten oder solche Sätze wie »Geh doch dahin, wo du hergekommen bist.« Deshalb hat er sich in Geduld geübt. In Geduld und Zielstrebigkeit.

Während die österreichischen Kinder im Wald Räuber und Gendarm spielten oder Sandburgen bauten und Straßen und Flugplätze, hantierte der kleine Kambodschaner schon im Sandkasten am liebsten mit den Kuchenförmchen. Und während andere Jungen bei ihren Vätern in den Werkstätten herumlungerten, drückte er sich in der Küche herum und sah seiner Mutter beim Kochen zu. Fürs Handwerk schien er ungeeignet. »Wenn ich ein Vogelhäuschen bauen mußte, dann mußte ich es mit Sicherheit zweimal bauen, so schlecht war das erste!«

Irgendwann nannten ihn seine Mitschüler Jean Luc. Weil sein Haarschnitt an den Commander der Enterprise erinnerte. Später verfielen sie auf Luigi Bagetti, weil er Baguette liebte. Auch diesen Namen ließ er gelten. Als er Jahre später nach Feierabend in der überfüllten Diskothek in Sölden den Plattenteller drehte, schrieben sie auf die Plakate nicht mehr Luigi, sondern Lui Chi. Damit es ein bißchen fernöstlich klang im Alpental. Sogar der ORF kam angereist, um den exotischen Diskjockey zu filmen. »Lui Chi« nennen sie ihn heute noch. Nith Sun, den Namen, mit dem er zur Welt kam, kennt heute niemand mehr. Und Nith Markus Jani steht nur noch in seinem Paß. Wenn die Leute ihn fragen, aus welchem Land er kommt, weil sie zwischen Vietnam und Thailand schwanken, dann sagt er: »Österreich«. Ohne mit der Wimper zu zucken.

Dabei ist es nicht so, daß Lui Chi etwas gegen Asiaten hätte. Auch nicht gegen die asiatische Küche. Er liebt sie. Er würde sofort nach Hongkong gehen, wenn er endlich mal ein gutes Angebot aus einem guten Restaurant bekäme, und nicht immer nur aus diesen Hotels, in denen man jahraus, jahrein dasselbe kocht. Nein, seit er die Suppen seiner Mutter gegessen hat, weiß er die asiatische Küche zu schätzen. Aber er hat eben Knödel gelernt. Und Wiener Schnitzel. Und Kaiserschmarrn.

Foto: Michael Hughes
Er ist auch nie auf die großen Feste seiner Landsleute gegangen, diese Hochzeiten mit 300 Gästen, für die seine Mutter früher immer so viel kochen mußte. Nicht einmal das große Neujahrsfest feiert er mit. Er hat sich immer an die Österreicher gehalten. Zielstrebig und geduldig. Er hat seine Lehre in dem berühmtesten Knödellokal von Gmunden gemacht, von Gmunden am Traunsee. Im Gasthof Grünberg liefen 30 Leute rum! Als er sich die Küche das erste Mal anschaute, hatte er das Gefühl, überall im Weg zu stehen. Also lief er gleich mit, »packte an« und spülte das Geschirr. Deshalb wählten sie Lui Chi  unter vielen andern echt-österreichischen Bewerbern. Das war der erste kleine Sieg, und schon im dritten Lehrjahr war Lui Chi stellvertretender Küchenchef.

Dafür war er »aber auch immer 15 Minuten vor der Arbeit da.« Denn Lui Chi war nicht nur geduldig und zielstrebig, er war auch ehrgeizig. »Ich wollte nicht ein halbes Jahr Kartoffeln schälen.« Also stand er Silvester auch mit 40 Grad Fieber am Herd, arbeitete 15 Stunden jeden Tag, verlor allmählich alle seine Freunde aus den Augen, die Familie sah er nur noch schlafend. Er dachte an Aufhören, aber dafür bezahlten sie den arbeitsamen Kambodschaner inzwischen zu gut. Hinzu kam, daß er als ausgewiesener Schnitzel- und Knödelkoch auf seinem langen Weg zum echten Österreicher ein gutes Stück weiterkam. Er hatte diese ewigen Wiederholungen der Dialoge lange genug ertragen: »Wo arbeitest du?«  »In einem Restaurant.«  »Ah, beim Chinesen!«  »Ne, beim Österreicher.«  »Tellerwaschen?«  »Ne, ich bin der Chefkoch!« Es war im Gasthof Grünberg, wo er »die Außenseiterposition aus dem Sandkasten« und dem Schulhof aufgab, wo er lernte, das schüchterne asiatische Lächeln durch österreichisch-lautstarkes Lachen zu ersetzen. Lui Chi hatte immer versucht, einer von ihnen zu werden.

»Ich hatte so meine Strategien«, sagt Lui Chi. Schon in der Schule, wenn sie beim Sportunterricht nach Körpergröße in »Stirnreihe« antreten mußten, wo er immer ganz links außen landete, hängte er sich während des Spiels an die Großen. Auch seine Freunde suchte er sich immer unter größeren Österreichern, nie unter kleinen Asiaten. Er trotzte. Und wenn man ihm sagte, er sei zu klein für den Sport, dann sagte er sich: Jetzt erst recht. Und trat dem Fußballverein bei. Sein großes sportliches Vorbild aber war kein Fußballer, sondern ein Basketballer: Mugsy Boughes, der kleinste Mann der NBA. Und deshalb trainierte er sieben Stunden am Tag Korbwerfen, bis er 1994 österreichischer Streetballmeister wurde.

Der winzige Kambodschaner war noch kein Jahr alt, als er im Winter 1980 quakend auf dem Flughafen Schwechat ankam, in den Armen seiner zitternden Mutter, die in ihrem Sarong dastand und fror. Sie hatten schreckliche Zeiten hinter sich, Nith, sein großer Bruder, die Mutter und die Großmutter. Aber am meisten gefürchtet haben sie sich auf dem Flughafen. »Niemand hatte ihnen das gesagt. Daß es so etwas gibt wie Schnee und so eine Kälte.«

Sie kamen gerade aus Thailand, wohin die schwangere Frau geflohen war. Ihr Mann, Herr Sun, war zurückgeblieben, um Battaribang zu verteidigen. Er wollte nachkommen, aber die Roten Khmer erschossen ihn. Auch Niths Schwester blieb auf dem Weg ins Flüchtlingslager zurück. Ringsum wurde gestorben, doch das Kind im Mutterleib trotzte dem Tod: Am 16. 3. 1980 wurde Nith im Flüchtlingslager von Kao Dong, Thailand, geboren.

Die Mutter, die Großmutter und die beiden Kinder kamen nach Gmunden »in den Pfarrhof vom Johann Schickelberger«. Der Pfarrer sorgte sich um die Flüchtlinge, mehrmals in der Woche kam der Deutschlehrer ins Pfarrhaus. Nith und sein Bruder lernten schnell beim Herrn Jani. Nur die Großmutter wollte nicht, sie unterhielt sich bis ans Lebens- ende nur auf Kambodschanisch und zündete jeden Tag in der Kirche von Gmunden eine Kerze an. Sie schüttelte auch energisch den Kopf, als der Deutschlehrer nach einiger Zeit um die Hand ihrer Tochter anhielt. Sie hielt nichts von solchen Ehen. Zudem begannen die Österreicherinnen zu reden: »Die hat mit dem Lehrer angebandelt, damit sie nix zu arbeiten braucht!«. Und auch die kleine kambodschanische Gemeinde, für deren Hochzeiten Frau Sun schnell mal 300 oder 400 Frühlingsrollen machte, weil ihre Frühlingsrollen eben die besten waren, begann zu lästern. »Dabei war sie die einzige gewesen, die als Witwe nach Österreich gekommen war!«

Doch auch Herr Jani war ein sturer Kopf und sagte sich: Jetzt erst recht! Beim 3. Versuch willigte die Großmutter ein, und der Österreicher mit dem altungarischen Namen Jani war nun Lui Chis Stiefvater. Zwei Geschwister wurden geboren, die taufte Herr Jani auf die Namen Franz Joseph und Elisabeth. Auch er, vor drei Generationen aus Ungarn eingewandert, wußte wohl noch gut, was es bedeutet, in Österreich ein echter Österreicher zu sein. Oder nur »a Tschusch«.

Aus Lui Chi ist ein geduldiger Mensch geworden. Geduld war die einzige Möglichkeit des Jungen, der als Sechzehnjähriger noch immer bescheidene 150 Zentimeter maß. Geduld war eine Art Überlebensstrategie. Ebenso wie der Ehrgeiz, irgendwann einmal zu ihnen zu gehören. So zu werden, wie die andern alle schon waren. Und wie es seine Mutter nie hatte werden können.

Wenn sie ihm sagten, er sei kein Österreicher, dann sagte er sich: Jetzt erst recht. So hat er es geschafft. Spätestens, seit er in Berlin ist. Als das österreichische Restaurant, in dem er arbeitete, anläßlich der Internationalen Tourismusbörse in Berlin für die Botschafter und Journalisten ein Degustationsmenü offerierte, nahm ihn der Chef vom Kürbis beim Arm und stellte Lui Chi der versammelten Mannschaft mit den Worten vor: »Und das hier is unser Chefkoch, a waschechter Österreicher! «  Alle lachten. Nur Lui Chi ein bißchen weniger.

Auch im österreichischen Fernsehen ist er noch einmal gewesen. »Land und Leute« hieß die Sendung, die in Berlin arbeitende Österreicher porträtierte. Die Kamera beobachtete ihn schon eine ganze Weile beim Zubereiten des Kaiserschmarrns, als der Kameramann irgendwann sagte: »Wann kommt denn endlich der Chefkoch?«  »Das bin ich!«, sagte Lui Chi und grinste.  »Was, Sie?«, rief der Kameramann. »Kein Witz!«, lachte Lui Chi, dem eigentlich nicht zum Lachen zumute war. Aber Lui Chi ist eben geduldig.


zurück zum Inhalt
© Außenseiter-Verlag 2024, Berlin-Kreuzberg