Mai 2005 - Ausgabe 67
Die Reportage
Neue Wege für alte Menschen von Hans W. Korfmann |
Frau Bedecke ist keine, die schnell aufgibt. Sie ist im Krieg großgeworden, mußte den Eltern in der Markthalle helfen, die Mutter war streng, wenn das Kind nicht spurte. Wie das damals eben so üblich war. So eine gibt nicht schnell auf, auch dann nicht, wenn sie sich mehrmals das Bein bricht. Aber eines Tages war es dann doch soweit, da kam sie nicht mehr richtig hoch aus ihrem Bett. Und jetzt sitzt sie im altrosafarbenen Morgenmantel in ihrem Sessel und sagt, »Ick werd Euch mal was erzählen...« Der Stock hängt noch an der Armlehne, als könnte sie jeden Moment aufspringen und einen Kuchen aus der alten, gekachelten Kochmaschine holen, die drüben in der Küche steht. Aber sie braucht ihn kaum noch. Sie braucht jetzt mehr als nur einen Stock. Zum Beispiel Doris. Doris kommt morgens früh. Doris Land aus Werneuchen. Über eine Stunde sitzt sie in der S-Bahn. »Ich liebe Doris, ganz ehrlich«, sagt Frau Bedecke. »Ich mein, ich mag die anderen auch, aber die Doris ...« Mit ihr versteht sie sich. Bei ihr hat sie das Gefühl, mehr als nur ein Arbeitsplatz zu sein. »Ick meene, die von der Station solln sich uff die olle Bedecken freuen. Ick freu mich ja auch auf die. Und bei der Doris, der Frau Land mein ich, bin ich sicher, daß sie gern herkommt. Oder etwa nich?« Sie zwinkert ihrer Doris zu. Doris Land kommt von der Diakoniestation in der Zossener Straße. Sie kümmert sich um das, was Frau Bedecke früher alles selbst erledigte, und was so selbstverständlich und alltäglich war: Waschen, Aufstehen, Zähneputzen, Frisieren ... Erst wer liegt, weiß, was es heißt, sich bewegen zu können. Was davon abhängt. Manchmal sogar die Heimat. Denn ohne Frau Land müßte Frau Bedecke ausziehen aus ihrer Wohnung. Der Wohnung, in der sie großgeworden ist, in der noch immer die alten, einst golden schimmernden, jetzt etwas blaß gewordenen Tapeten hängen, die königsblauen Bordüren und die königsblauen Vorhänge im Erkerzimmer, und in der noch immer die alten Sessel und der Kachelofen stehen. Seit über siebzig Jahren wohnt sie »in der Bergmann«, 1933 sind sie »eine Treppe eingezogen«, später dann in den dritten Stock umgesiedelt. Da zieht man nicht mehr aus. Foto: Michael Hughes
Doris ist nicht die einzige, die kommt. Da ist noch der junge Mann, der immer in die Oper geht, und mit dem sie sich dann über die Aufführungen unterhalten kann. Der ist am Wochenende da. Und dann ist da noch Ilona, die abends kommt. Die ist auch ganz nett. »Manchmal fragen mich die Bekannten, wie denn das so ist bei der Diakonie. Und ich sag immer, das ist gut, ich kann nicht klagen. Wirklich nicht. Kommt immer darauf an, wer um einen rum ist.« Und dann sagt sie: »Hast de das ooch gehört, Doris?« Doris Land ist eine von 150 Mitarbeiterinnen aus der Diakonie-Sozialstation, und Frau Bedecke ist nur eine von 200 Kreuzbergern, die von der Station in der Zossener Straße betreut werden. Ein Glücksfall vielleicht. Die beiden Frauen verbringen fast den halben Tag miteinander, aber sie sind ein eingespieltes Team, in der Dreizimmerwohnung herrscht Harmonie. Nicht immer verstehen sich Pfleger und Gepflegte so gut. Und nicht immer bekommen die Mitarbeiter der Diakoniestation zu Weihnachten Blumen von ihren alten Bekannten mit diesen netten Worten überreicht: »Manchmal reicht ein Dankeschön eben nicht aus. Da müssen mindestens ein paar Blumen dazu.« Aber daß Altenpflege mehr ist als nur »Arschabputzen und Windelwechseln«, daß ein Mensch auch eine Seele hat, das hat sich inzwischen bei den Pflegern herumgesprochen. Foto: Michael Hughes
Mit der Zeit aber geht diese Angst verloren. So wie bei jenen sechs, die in der Fidicinstraße leben. In einer Welt, in der das Vergessen kein Tabu mehr ist. Wenn eine Mitbewohnerin nicht mehr so ganz genau weiß, wie alt sie eigentlich ist, dann scherzen die Männer: »Das ist ja öfter so bei Frauen, daß die sich nicht mehr an ihr Alter erinnern!« Auch Herr Staggert, der alte Kapitän, erinnert sich nicht mehr so genau, auf welchen Meeren er überall unterwegs war. Eher schon daran, daß Seemänner in jedem Hafen eine Braut haben. Und vom Sturm weiß der Mann aus Bremerhaven noch, daß man reagieren muß, »wenn du die schwarze Wand siehst. Dann mußt du zusehen, daß du schnellstens verschwindest, sonst bekommst du nasse Füße«. Und Herbert Wallschläger, der ehemalige Rennfahrer mit seinem Pokal von der deutschen Tourenwagenmeisterschaft 1981 auf dem Schrank, der sich seinen eigenen Rennwagen mit Ford V 1-Motor, einem echten Formel 1-Antrieb, zusammenschraubte und damit auf der Avus seine Runden drehte, erinnert sich auch nicht mehr ganz genau, wo überall er seine Rennen gewonnen hat. Stünden da nicht die Pokale, würde man ihm kaum glauben. Innerhalb der WG aber glauben sie sich. Man kennt sich. Man weiß voneinander, hat die Fotoalben durchgeblättert, über alles irgendwann schon einmal gesprochen. Frau Friede, die seit drei Jahren die WG in der Fidicinstraße leitet, sagt: »Ihre Biographie ist das wichtigste. Wir versuchen, so viel wie möglich zu erfahren, durch ihre Verwandten, ihre eigenen Erzählungen, und eben über das, was sie an Persönlichem mitbringen. Demenzkranke gehen in ihrer Biographie immer weiter zurück, es gibt einige, die sind irgendwann wieder 14 Jahre jung und spielen mit Puppen.« Und eine Vierzehnjährige hat nicht viel Vergangenheit, nur die Zukunft. Eine Sechzigjährige, die wieder mit Puppen spielt, hat weder das eine noch das andere. »Ich kann mich wirklich nicht beklagen«, sagt Irmgard Bauer, »wirklich nicht«. Von ihrem Zimmer aus kann sie direkt in den Garten gehen, wo dieser riesige alte Kirschbaum steht, der der Wohngemeinschaft ihren Namen gab: Alter Kirschbaum. Die WGs der Alten haben Namen wie die der Jüngsten. So, wie sich die Kitas »Wilde 13« oder »Katzbachpiraten« nennen, so könnten auch die WGs bald Namen wie »Die alte Rasselbande« oder »Die rosaroten Panther« tragen. Die Namen sind nicht zufällig, sie stehen für etwas, drücken eine Stimmung aus. Eine positive. Eine alternative. Sie klingen besser als »katholischer Kindergarten« oder »städtisches Altenheim«. »Wir lachen viel, jeder hier hat sich eine gesunde Portion Sarkasmus zugelegt«, sagt Frau Friede. Langweilig ist es selten. Hier wird gelebt und nicht gestorben. Hier feiert man Geburtstage, lädt Freunde ein und sitzt gemeinsam beim Frühstück, beim Mittag- oder Abendessen und beim »Mensch-Ärgere-Dich-Nicht«. Ganz so wie früher in den großen Familien auch, in denen noch Platz für einen alten Mann oder eine alte Frau war. Sie hocken auch nicht immer am Tisch oder im Zimmer, sie gehen »zu Norbert in die Primel« Kuchenessen, zu Plus einkaufen und Zigarettenholen im Kiosk um die Ecke. Die Fidicinstraße rauf und runter. In der Straße kennt man sie, die Sechs vom Kirschbaum. Über hundert solcher WGs für demenzkranke Menschen gibt es bereits in der Stadt. 1994 war es erst eine einzige. Auch die Diakoniestation in der Zossener Straße hat jetzt drei solcher WGs eingerichtet, sie liegt im Trend. Mit den verstaubten Ansichten einstiger Diakonissenanstalten, in denen das Beten wichtiger war als der Mensch, hat die Einrichtung in der Zossener Straße nichts mehr zu tun. Sie stellt sich der Zukunft und sich verändernden Aufgaben. Eine neue Herausforderung für die Diakonie ist der wachsende Anteil von Einwanderern unter den Hilfesuchenden. Bis zum Jahr 2010, so die Berechnung, werden unter den über 60jährigen eine Million ursprünglich Fremdsprachige sein. Anders als erwartet, und auch anders, als es die Lebensplanung der ehemaligen »Gastarbeiter« vorsah, kehren die wenigsten von ihnen im Alter in die Heimat zurück. Die Diakonie hat darauf reagiert und Mitte der Neunzigerjahre »interkulturelle Öffnungsprozesse« eingeleitet. Die Station in der Zossener Straße ist eine von dreien, in denen seit dem Mai 2003 ein Modellprojekt durchgeführt wird. Ebenso wie im Wedding und in Neukölln versucht man, Sprachbarrieren zu überwinden, Problemen durch religiöse und kulturelle Unterschiede zwischen Pflegern und Gepflegten mit Aufklärung und Weiterbildung, sowie durch Einbindung ausländischer Mitarbeiter in die Pflege, zu begegnen. Schließlich ist es das Ziel der Diakonie, »Menschen in jedem Lebensalter (...), unabhängig von Konfession, Geschlecht oder Alter« zu helfen. »Die interkulturelle Öffnung«, schreibt Annette Nicolai, Dipl.-Sozialarbeiterin bei der Diakoniestation Kreuzberg in einer ersten umfangreichen Broschüre zum Thema, »ist ein langer Weg, der in kleinen Schritten zurückgelegt wird. (...) Wir haben noch einige Meilen vor uns ...« Hans W. Korfmann |